Der Kräutergarten – Panoptikum verlorenen Zeitgefühls

Ich habe einen Kräutergarten.

Das ist kein Code für die Eigenproduktion bewusstseinsbeschönigender Blütengewächse zur temporären Realitätsverzerrung. Das ist auch kein politisches Statement wider die großkapitalitäre Übernahme durch unverschämt vielfältigen Einkaufshöllen-Totalitarismus. Nein, ein Kräutergarten, wie es denn typischerweise so einer ist: Hell- bis dunkelgrün, nadelnd, kleinblättrig, größerflächig, mit sympathisch-bunten Devotionalien mediterraner und mitteleuropäischer Couleur, wie sie dem gemeinen Nahrungsvernichtungs-Connoisseur und Teilzeitkochologen nur allzu vertraut vorkommen. Rosmarin, welcher dem eingangs erwähnten Bespaßungsgrünzeug zumindest hinsichtlich Duftaroma gefährlich nahe kommt. Oregano und Basilikum für das verfressene Pasta- und Pesto-Teufelchen auf der rechten Schulter, Minze und Zitronenmelisse für den eremitischen Waldschrat-Engel auf der Linken. Die nächste Erkältung kommt gewiss, und wenn der Aluhut nur tief genug in der Stirn hängt, vertraut man doch lieber erprobtem Kräuterhexen-Grundkurswissen denn aufgeblähtem Doktoranden-Geschwurbel. Dazu noch Thymian. Ich weiß bis heute nicht so ganz wozu der gut ist, aber er macht tolle Sachen mit roten Saucen, ohne nach Tee zu schmecken – Und da will ich gar nicht näher nachfragen wie er das anstellt. Ist ja auch seine Sache. Dazu noch Schnittlauch, der in seiner wild wuchernden Leck-mich-am-Arsch-Attitüde wohl das alternativste Element in ganz Plagwitz darstellt. Würde ich genügend Omeletts verbraten, um den kleinen Hobbypunk nachhaltig abzugrasen, der Hausarzt könnte meinen Cholesterinspiegel als Blindenschrift direkt über die Haut abtasten.

Ich habe Angst um meinen Kräutergarten.

An irgendeinem schrecklich wunden Punkt meiner Vita habe ich bis ans Ende aller Zeit die Fähigkeit verloren, Pflanzen im Allgemeinen in einem kalendarisch überschaubaren Zeitraum am Atmen zu halten. Vielleicht war es der damalige Umzug in meine zweite, Parterre gelegene Höhlen-Behausung, vielleicht hat sich das Elend dem menschlichen Auge unerkannt schon viel eher angedeutet. Wehmütig denke ich an den Jahre währenden Todeskampf meines Elefantenbaums, Generationen von Yucca- und Areca-Palmen sind namenlos und elendig auf den Kriegsfeldern gärtnernder Kolossal-Unfähigkeit verreckt. Ich habe einen schwarzen Daumen. Pechschwarz. Vantaschwarz. Die Antithese zu Licht und Leben. Seit meiner Niederkunft in Leipzig bin ich im Besitz einer Dachloggia, das heißt Luft, Liebe, Sonne. Von zwei Koniferen, die ohne Wimperzucken den nächsten Atomkrieg überstehen, ist eine nach etwa einem Monat qualvoll verendet, die zweite widersetzt sich noch standhaft ihrem Schicksal. Ja, ich habe die braunen Blätter abgeschnitten, ihr gut zugeredet, sie in den Halbschatten gestellt. Ich gebe mein Bestes, aber sind wir ehrlich: Nichts hat bei mir eine Chance, ohne die Fähigkeit vollkommen autarker Selbstversorgung den nächsten Morgen erleben zu dürfen. Außer vielleicht die Areca im Wohnzimmer, die geschätzt Vierte ihrer Linie, der scheint es naiven Blicks zumindest unerklärlich gut zu gehen. Vielleicht ist sie Buddhist und nimmt ihr trauriges Los solange wie irgend möglich hin, um nicht als Bonsai wiedergeboren zu werden.

Warum habe ich Querschnitts-Botaniker einen Kräutergarten?

Wenn ich schon weder Leben schenken noch sichern kann, so kann ich es zumindest beenden. Oder bereits beendetes Leben einem natürlichen Zweck zuführen. Ich kann essen. Gerne und viel. Und ich kann kochen. Ganz anständig sogar. Sicher ist es genau diese Kosten-Nutzen-Rechnung, dieses pragmatische Moment, das allzu häufig mein Handeln lenkt, welches mich zur Installation dieses himmelfahrenden Suicide-Squad-Blattwerks getrieben hat. Oder einfach, weil ich es irgendwann einmal freimütig auf eine der zahlreichen To-Do-Listen gekritzelt habe und nicht ertragen kann, wenn Dinge unerledigt bleiben, so hoffnungslos sie auch sein mögen. Der erste Thymian hat drei Tage überlebt. Glücklicherweise hat der nachbarschaftliche Baumarkt noch immer Jungtierwürfe im Angebot – Es ist August und mit Aussäen und Anzüchten befasse ich mich lieber gar nicht erst. Auftritt also für Thymian den Zweiten. Der lebt bis dato. So irgendwie. Etwas schwach auf der faserigen Brust, aber am Leben. Über die bald violetten Oregano-Blüten habe ich mir ein zweites Löchlein in Anus-Nähe gefreut, wenig später waren sie braun. Aber auch er, Oregano der Erste, ist noch da. Und bei einer unüberdachten Westseiten-Balkonidylle haben es gerade die Warmblüter unter den angehenden Märtyrern wahrlich nicht leicht.

Überhaupt: Alle der zum Scheitern verurteilten armen Tröpfe atmen. Seit Wochen. Ich habe sie umgetopft, mit Kräutererde versorgt, gieße behutsam. Ich fahre mit den Fingern sanft durch ihr lieblich duftendes Blätterkleid, sage den Verlorenen, dass sie nicht allein sind, nicht vergessen werden, dass sie es schon irgendwie schaffen. Zumindest bis sie grausam aber pointiert niedergestutzt werden, wir sind ja schließlich nicht zum Spaß hier. Ein Rest der ersten Oregano-Basilikum-Thymian-Mische harrt geduldig seiner End-Bolognesierung, viele weitere ihrer auf dem Schlachtfeld gefallenen Kameraden hängen kopfüber, zum Ausbluten aufgereiht und mittlerweile derart unkenntlich entstellt, dass sie kaum noch zu unterscheiden sind. Ich brauche Totenzettel. Ihren kämpfenden Brüdern draußen vor der Balkontür halte ich dennoch die Stellung. Sie sind mir ans Herz gewachsen, diese dünnhäutigen Veteranen.

Der Kräutergarten – Panoptikum verlorenen Zeitgefühls

Irgendwann ist mir klar geworden, dass es hier um weit mehr geht als um Schlachten, Trocknen und Vernichten, dass mein beschaulicher botanischer Mini-Garten mehr ist als nur ein „Schau mal, was ich da tolles hab“-Vorzeigemodell. Wie viel ich mir bis Herbst und Winter tatsächlich von ihm einverleibe ist mittlerweile irrelevant geworden. Er bringt Freude, ist bunt, wie er in seiner grünen Buntheit eben sein kann, er schenkt mir Gewissheit, da zu sein, wenn ich nach einem weiteren harten, täglich grüßenden Arbeitsturnus daheim einkehre. Entgegen des ermüdend dauerchangierenden Spätschicht-Frühschicht-Fegefeuers birgt mein kleines Privatbiotop eine weitaus willkommenere Routine. Er kennt keine Deadlines, keine Korrekturschleifen, keinen Wettbewerb, handelt unbürokratisch, sammelt keine Rechnungen, die er aus monetärer Unpässlichkeit nicht begleichen mag. Er entschleunigt anstatt zu drängeln und hat in seiner Perfektionierung des Nichtstuns den wahren Wert alles Irdischen bedeutend besser auf Kette als wir permagehetzte Zweifußkleinhirne.

Der Blick in den Kräutergarten ist ein Blick nach außen, auf die Gesamtheit der Welt und was ihre Mietnomaden zwischen ständig Können Wollen und Machen Müssen im Innersten zusammenhält. Auch ein ebenso liebevoll gehegtes Blumenbeet ist höchstens bei Farin Urlaub dazu da, gegessen zu werden. Kein Mensch sammelt Briefmarken um ernsthaft Postkarten zu verschicken. Die amtliche Comic-Sammlung will in erster Linie einmal existieren anstatt grundsätzlich gelesen zu werden. Eine sorgsam zusammengewerkelte Miniatureisenbahn wird nie ihren Weg aus dem Ringlokschuppen ins Ungewisse des ewig kreisenden Schienenzirkulierens finden. Und die Carrera-Bahn ist höchstens was für Papa, während Sohnemann mal bitte schön die Finger davon lässt – zumindest bis auch bei diesem hartplastigen Adrenalingaranten der ideelle den kurzfristig praktischen Nutzen übersteigt. Es sind ja schließlich auch Kindheitsmomente, viel zu kostbar, um sie den Gefahren höherer Gewalt und sorgsam platzierter Sollbruchstellen auszusetzen. Und Kindheit meint selbstredend nicht kindisch, es geht um Erinnerungen: Stundenlanges Spielen mit Matchboxautos, die erste große Fahrt mit der Bahn in weit entferntes Urlaubsidyll, das Durchstöbern der Zeitschriftenregale im Buchladen in der großen Pause, der erste selbst geschriebene Brief, fern von Druck und Zwängen den Nachmittag im Gras liegend zwischen Sonne und Zeckenbissen verstreichen lassen – und schließlich der unnachahmliche Duft aus der heimischen Küche, als man sich den eigenen Ranzen noch bis zum Bersten überspannen wollte, ohne bei allem Kalorienzählen den Spaß an der Sache zu verlieren.

Immer geht es dabei auch um Zeit: Zeit, die man im Überfluss hatte, weil man sich nicht mit ihr beschäftigen musste. Weil man Sinn und Unsinn nicht abzuwägen versuchte, weil man den Tag höchstens in Aufstehen und Hinlegen einteilte, nicht in das Korsett eines effizienzoptimierten Tages-Ablaufs einzuschnüren meinte. Klar, mit 10 hatte man noch unzählige Morgen vor sich, mit 15 auch – Kleiner Tipp: Mit 30 hat man das auch noch, auch mit 40 und später. Und doch organisieren wir uns einen 5-Jahres-Schlachtplan, um ja nicht den Anschluss an all die anderen 5-Jahres-Schlachtplaner zu verlieren, unseren hoch gesteckten Ansprüchen gerecht zu werden und für eine Zeit vorzusorgen, an die wir sonst ungern einen Gedanken zu viel verschwenden. Ununterbrochen planen wir uns den Uhrzeiger krumm, als könnten wir ihn Kraft des Willens zum Anhalten verführen.

Eine Laudatio an meinen Kräutergarten

Und doch suchen sich Menschen Hobbys, obwohl vor lauter Pflichten der Hut schon viel zu klein ist, um noch irgendwas darunter zu stopfen, investieren Geld und Mühe, verschenken noch mehr ihrer ach so kostbaren Stunden – Beschenkt werden sie umso reicher, indem sie das Damoklesschwert Zeit für Momente der Ruhe und Entspannung baumeln lassen wie das eigene Seelenleben. Freilich kann man in einer Stunde die Küche putzen, Emails checken, Besorgungen erledigen, über Anrufe, SMS und Whatsapp den eigenen Terminkalender im geheiligten Namen der Freizeitgestaltung winterfest dicht isolieren. Oder man hockt sich in die untergehende Westsonne, tastet sorgsam den Humusboden der einzelnen Terrakottatöpfe auf Wasserstand ab, gibt vorsichtig ein paar Tropfen hinzu, fühlt Blätter und Stängel der kleinen Krautkumpel auf ihren Gesundheitszustand, spricht ein paar Worte mit ihnen, denn zuhören tun sie sowieso. Hin und wieder gibt man ihnen ein neues Zuhause, verpasst ihnen einen modischeren Kuzhaarschnitt, lässt sich meditativ nieder und genießt für einige Augenblicke das liebliche Odeur, dass die kleinen Work-Life-Balance-Gurus verströmen, wenn man sie nur ein klein wenig in entspannte Bewegung versetzt hat. So eine Stunde ist da auch ganz schnell vorüber. Produktiv ist das alles nicht, zumindest nicht auf einer in Exceltabellen visualisierbaren Skala, aber das geschundene Oberstübchen verbeugt sich zutiefst.

Vielleicht lebt er ja deshalb noch, mein kleiner grüner Kräutergarten, weil er mir den Segen süßer Unproduktivität so selbstlos auf dem Silbertablett serviert, schmackhaft für Kopf, Gemüt und Magen. Und wenn ich vor lauter Unproduktivität dann doch wieder meine, himmelschreiend produktiv zu werden, krampfhaft den Gehalt in etwas mit Fug und Recht Gehaltlosem suchen zu müssen, dann kann ich mich ja immer noch hinsetzen und einen verschroben-neurotischen Text zu meinem kleinen Aromagarten Eden auf Papier bringen. Vielleicht gibt es ja Leute, die diesen Zeilen abseits ihrer vergebenen Zeit etwas abgewinnen und mich nicht umgehend für bedenklich autistisch oder verrückt erklären. Und wenn doch, was soll’s, dann muss ich mich um die auch nicht mehr kümmern, hab ich halt noch mehr Zeit für sinnvollere Sachen.

2 Gedanken zu „Der Kräutergarten – Panoptikum verlorenen Zeitgefühls“

  1. Toll geschrieben, gefällt mir sehr.
    Da scheinst du ein tolles neues Hobby gefunden zu haben. So ein Gärtchen hat echt was und wer weiss, vielleicht überstehen es bei dir auch noch andere, empfindliche Pflanzen und hast langsam ein Händchen dafür.
    Meine Daumen sind tiefschwarz, bei mir hat noch keine Pflanze überlebt und im Sinne des Pflanzenschutzes werd ich es auch nicht mehr probieren.

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