The killing of a sacred deer (Review/Film)

The killing of a sacred deer - Trailer (Official)

The killing of a sacred deer

Groteske / Tragödie / Horror

28.12.2017 (D) -- 121 min

R:
Yorgos Lanthimos

D:
Colin Farrell, Nicole Kidman, Barry Keoghan, Alicia Silverstone

Auge um Auge

Es ist aber auch ein Kreuz mit den alten Göttern! Ständig gepriesen werden wollen, stets den eigenen Glauben auf die Probe stellen müssen, immer eine noch größere Niedertracht im Wunder-Köcher haben. So wollte Agamemnon nichts weniger als sein Heer in den Trojanischen Krieg führen, um sein geliebtes Griechenland zu verteidigen. Und Artemis hat nichts Besseres zu tun als durch anhaltende Windstille die Weiterfahrt seiner Armee zu verhindern und eine ganze Nation dem Untergang zu weihen – Wenn, ja wenn nicht Agamemnon freiwillig seine Erstgeborene Iphigenie tötet. Ein galliger Kommentar auf göttliche Allmacht und Willkür, in Szene gesetzt durch den griechischen Tragiker Euripides. Was das alles mit The killing of a sacred deer zu tun hat? Wo Agamemnon noch eine Hirschkuh als Pfand zur Rettung seiner Tochter half, gibt es in Yorgos Lanthimos‘ neuester Gemeinheit keinen Hoffnungsschimmer, nur minutiöse, kaum zu verkraftende Qualen. Gleichermaßen schonungslos wie abgründig unterhaltsam und mit finsterstem Humor, der das Gezeigte bis zum unweigerlichen Im-Halse-Stecken zumindest zeitweilig zumutbar macht.

Das Doktor-Ehepaar Anna (Nicole Kidman) und Steven Murphy (Colin Farrell), sie Augenärztin und er Herzchirurg, führt ein komfortabel wohlhabendes Spießer-Leben inmitten einer klinisch sauberen Vorstadt mit zwei klinisch wohlgeratenen Kindern Bob (Sunny Suljic) und Kim (Raffey Cassidy) in einem klinisch geordneten, großen Haus, in dem selbst der Sex klinisch korrekt von statten geht, wenn sie sich einer Vollnarkotisierten gleich auf dem Bett drapiert, um ihm in eingespielter Routine etwas wie Lust noch zu ermöglichen. Sicher, das gleichgültige Agieren und die hektisch-gestelzten Dialoge lassen Zweifel an der sozialen Kompetenz der Figuren im Raum stehen, doch beruflich und finanziell verläuft alles ebenso nach Plan wie das Chor-Engagement der Tochter und die Klavierstunden des Sohnemannes.

Einziger und immer tiefer in das Effizienz-optimierte Familienidyll eindringender Fremdkörper ist Martin (Barry Keoghan), Teenager und Halbwaise, zu dem Steven eine eher gezwungen freundschaftliche Bindung pflegt, wohl aus Mitleid oder Schuldgefühlen, seitdem Martins Vater auf Stevens Operiertisch tragisch verstorben war. Martin wird zu den Murphys nach Hause eingeladen, sammelt Sympathiepunkte bei Anna, freundet sich mit Bob an, während Kim erste Liebesgefühle für ihn entwickelt. Daraufhin taucht Martin immer häufiger bei Stevens Arbeit auf, bedrängt ihn, will ihn gar mit seiner allein erziehenden Mutter (Alicia Silverstone) zusammen bringen, spielt den Vernachlässigten. Denn ein perfides Spiel ist es tatsächlich: Bald kann Murphy-Sohn Bob nicht mehr laufen, verweigert jedes Essen, die versammelte Ärzteschar kann weder psychische noch physische Störungen feststellen. Und Martin offenbart Steven seinen unglaublichen wie sinisteren Racheplan: Steven habe einen Mensch aus Martins Familie getötet, jetzt wird er einen aus seiner eigenen Familie töten müssen. Wählt Steven nicht selbst, sterben sowohl Sohn, Tochter, als auch Mutter. Sie werden gelähmt sein, nicht essen wollen, aus den Augen bluten und schließlich verenden. Der Familienvater steht vor einer unmöglich zu treffenden Entscheidung…

Die Filmsaison 2018 hat sich kaum in Startposition begeben dürfen, da wird sie von Griechenlands Everybody’s-Gegen-den-Strich-Darling Yorgos Lanthimos in dessen zweiter englischsprachiger Regiearbeit sofort wieder über den sprichwörtlichen Haufen getrampelt. Schon Lanthimos‘ letzter Eintrag The Lobster, u. a. auch mit Colin Farrell, machte mit einer originellen wie abwegigen Ausgangssituation (in einer nahen Zukunft ist das Single-Dasein verboten, Alleinstehende werden in ein Tier ihrer Wahl verwandelt) und betont hölzern-distanziertem Figurenverhalten von sich reden. In The killing of a sacred deer baut der Regisseur diesen theatralischen Ansatz genüsslich aus, unter massivem Einsatz klassischer Musik und dissonanter Klangbilder, während er seine Charaktere ähnlich Marionetten im Rahmen einer Versuchsanordnung gänzlich entmenschlicht. Da spricht der Vater unter Kollegen unreflektiert sowohl von den Gesangsleistungen wie den ersten Regelblutungen seiner Tochter und schwadroniert Martin von der seinem Vater ähnlichen Weise des Spaghetti-Essens, während es eigentlich um Leben und Tod geht.

Die Kamera folgt den Darstellern dabei wie Ratten im Labyrinth durch endlose Krankenhaus-Flure, bleibt den „Probanden“ gegenüber betont auf Abstand und wählt ungewöhnliche Einstellungen, als würde man als Zuschauer einem wissenschaftlichen Experiment beiwohnen. Dieser stoisch-kühlen Herangehensweise ist es zu verdanken, dass die mythologisch aufgeladene, niederschmetternde Prämisse eines aufgezwungenen Kindsmords zur Vermeidung schlimmeren Übels überhaupt erträglich bleibt, indem Subjekte objektiviert werden und dem Geschehen damit ein Stück seiner dramatischen Tragweite nehmen. Und wenn beispielsweise Bob, unfähig zu gehen, quer über den Boden der Villa schlurft, um seinem Vater zu offenbaren, auch Kardiologe werden zu wollen, um damit noch letzte Pluspunkte in dem Russischen Roulette zu sammeln, dann ist das eigentlich alles andere als witzig, aber dermaßen rabenschwarz und grotesk überzeugen, dass man sich ein schmerzendes Lachen kaum verkneifen kann.

Jeder der Akteure leistet seinen infam-bitteren Beitrag zum Gelingen der Stilübung The killing of a sacred deer: Colin Farrell perfektioniert nach The Lobster sein maschinell gesprochenes und bis zum Bodensatz emotional entleertes Schauspiel, während Nicole Kidman noch den einen entscheidenden analytischen Schritt weiter geht und den Tod eines der Kinder ihrem eigenen vorzieht, schließlich könnten sie noch ein neues „machen“. Diese Kinder wiederum scheinen sich ihrem Schicksal teilnahmslos zu fügen und debattieren seelenruhig, warum der jeweils andere weniger Liebe der Eltern und damit weniger Chancen zum Weiterleben verdient. Und abseits von all dem liefert Barry Keoghan als Martin zwischen Verletzlichkeit, nahezu autistischer Abwesenheit und eiskaltem Pragmatismus eine wahrhaft diabolische Performance.

Und genauso pragmatisch will Lanthimos sein jüngstes Werk auch verstanden wissen: Wieder geht es nicht darum, die Narration und die fantastische Grundidee einer gewissermaßen göttlich auferlegten Strafe real verorten und erklären zu müssen, The killing of a sacred deer ist eine Parabel auf das (Miss-)Verständnis von Verantwortung, Schuld und Gerechtigkeit und bietet als solche reichlich Freiraum für Diskussionen und Interpretationen. Lanthimos gelingt es spielend, sowohl direkt als auch symbolisch Fragen aufzuwerfen, die man sich unter anderen Umständen nie stellen möchte, nach Sichtung des Films aber im Gedächtnis bleiben. Wer ist hier der Schuldige, wer verdient Bestrafung? Was ist fair, was gerecht? Wer sind die Leidtragenden in einer Spirale aus Missgunst und Vergeltung? Wie würde man in einer ähnlichen Situation handeln? Und wie bekommt man die verstörenden Bilder wieder aus dem Kopf, das Kinojahr ist doch noch so jung?

Bewertung 5.0

3 Gedanken zu „The killing of a sacred deer (Review/Film)“

  1. Bin vor anderthalb Stunden aus dem Kino gestolpert. Wieso muss der erste Film des Jahres immer ein wenig anders sein? Ich bin ganz bei deiner Einschätzung und finde den hier sogar sehr viel besser, weil erzähltechnisch stringenter, als „The Lobster“. Bei dem hatte mich Lanthimos mit der Waldgeschichte irgendwie verloren. Und: Barry Keoghan? What a creepy performance…

    1. Da war ich gespannt auf deine Meinung, ist ja so ein Film, bei dem man die Reaktionen schwer absehen kann. Bleibt nur die Frage: Wieviel böser Mensch ist man, wenn man bei Sichtung immer wieder grinsen muss…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert