Markus Digwa: "Polaroids" & "entglitten"
Sammlung - Kurzgeschichten / Gedichte
2018 -- Edition Winterwork
Heutzutage muss alles Entertainment sein. Die große Gala, die breite Geste. Poetry Slam, Kabarett, Comedy. Interaktiv, affektiv, provokativ. Unter dem Dogma des Sensationellen stirbt das sanfte Drama, verweht der ruhige Dichter, der schüchterne Anekdotenschreiber. Markus Digwa wählt bewusst den Weg des Anachronistischen. Mit ausgesuchten Worten und metaphorischen Sinnbildern, mit Gedichten und Kurzgeschichten ist er ganz der Poet – und findet damit sein Publikum.
Beeinflusst von klassischen Schriftstellern bis hin zur Aufbruchsstimmung junger Autoren der Beat Generation um Allen Ginsberg und Jack Kerouac und angetrieben durch musikalische Lyriker wir Patti Smith, Nick Cave und Blixa Bargeld trifft er genau den Nerv des Eleganten, in Reimform oder Prosa, der vielen zeitgenössischen Künstlern abgeht. Wohnhaft in Leipzig feilt Digwa seit sieben Jahren an seinen Werken, schreibt über Liebe, Natur, Politik und Philosophie. Nach über zwei Dutzend Veröffentlichungen sind jetzt seine ersten zwei eigenen Bücher bei Edition Winterwork erschienen: Eine Kompilation aus kleinen Erzählungen und eine Sammlung lange gereifter Gedichte.
„Polaroids“
Sieben Geschichten verbergen sich hinter dem Erzählungsband „Polaroids“. Sieben Geschichten, meist fiktiv und doch lebensnah, in denen der Autor seine Gefühlswelt zwischen Lieben und Trauern, zwischen Verlieren und Vergessen, zwischen Transzendenz und Buddhismus, zwischen Zuversicht und Zukunftsangst ausbreitet. Gerade Letzteres ist eine Konstante, die in vielen von Markus Digwas Anekdoten mitschwingt.
Während er in „Das Erdbeben, das niemand mitbekam“ noch versucht, mit möglichst positiver Energie schicksalhaft-übermenschlichen Fügungen zu begegnen, verdunkelt sich der Himmel dann, wenn er den Mensch in den Mittelpunkt rückt: In dem titelgebenden „Polaroids“ ist Orwell Wirklichkeit geworden, der Krieg der Klassen entschieden, das Schicksal vorherbestimmt, sind Kunst und Zuneigung vergangen, sich auflösend in verblassten Polaroid-Aufnahmen.
„Nichts ist gefährlicher für die Leitung, als die Geschichten, die sie so rigoros versucht aus den Gedächtnissen der Menschen zu löschen“, sagte Lilian am letzten Abend zu mir, bevor sie verschwand.
Der Hoffnungsschimmer, er bleibt, er ist elementar für Markus Digwas Schreiben. Und dennoch: Kurioserweise kristallisiert sich gerade „Garten“ als stärkster Text der Sammlung heraus – Ein Text, der behutsam von den allwöchentlichen Treffen mit dem Demenz-kranken Großvater erzählt, dann aber umso vernichtender eine Welt der Kälte zeichnet, die die Titelstory „Polaroids“ zu Ende denkt.
Jetzt müsste ich ihm eigentlich sagen, dass es leider nicht so ist. Dass die Welt nicht mehr die ist, die sie einmal war. Es gibt keinen Frühling und keinen Sommer mehr. […] Es gibt nur noch die Kälte, den Schnee, den Winter […] Ich wische eine Träne von meiner Wange. Hoffentlich hat er diese nicht gesehen.
Auch in den intimen Momenten, in denen Digwas Geschichten nahe bei dem Künstler selbst sind, existiert ein Yin nie ohne sein Yang: Zwischen Erfolg und Selbstbetrug, Vertrauen und Selbstzweifeln oszilliert das eröffnende „Katzen und Geister“, bevor „Heim“ betont stilistisch extrovertiert vor dem Hintergrund einer untergegangenen Ära die Schwierigkeiten der Selbstfindung inmitten lähmender Bedeutungslosigkeit beschreibt:
Wir sollten gehen. Ist mir sowieso zu unverständlich, diese lebendige Kunstinstallation. Sie fängt an eklig zu werden. Selbst vor der Emesis wird nicht mehr Halt gemacht. Mal ganz von den Grenzen des guten Geschmacks abgesehen.
Seinen Weg wird Markus Digwa finden und beschreiten. Dass er steinig ist und bleibt, dass es keine Sonne ohne Regen geben kann, weiß der Autor selbst am besten. Doch jede Hürde erweist sich letztlich als Herausforderung, die es zu meistern gilt, will man das Licht suchen, sein Herz nicht verschließen. Wie heißt es doch so treffend in dem melancholisch-verträumten „Der Wind und das Schiff“:
Nur weil ein Sturm herrscht, muss nicht gleich ein Unglück geschehen.
„entglitten“
Der Gedichtband „entglitten“ entpuppt sich schließlich auch größer als die Summe seiner lyrischen Kleinteile – Als ein Konglomerat aus Dichtkunst, Fragmenten, Songzeilen und gerafften Erzählungen, die einem deutlicheren roten Faden folgen, als man es einer solchen Zusammenstellung zutrauen würde. Zwischen den für Markus Digwa typischen Themenfeldern aus Liebe, Sehnsucht, Verlangen und buddhistisch-friedvoller Entrücktheit ist es insbesondere der Drang nach Weltflucht, der sich als Impetus vieler Texte in verschiedenen Facetten offenbart.
Ich fang mir einen Traum. Halt ihn. Lass ihn nicht mehr los. Versinke in seinen schleierhaften Bildern. […] Jenseits des Sichtbaren. Verborgen. Eine Welt der Fantasie. Ich bin ein Traumfänger. (Traumfänger)
Auszeit vom eigenen Leben. In fremde Welten eintauchen. Flucht. Illusion. Kino. Realität gespielt. Auf Film gebannt. Auf eine Leinwand geworfen. Auf ewig in den Köpfen verinnerlicht. Werden wir in Erinnerungen unsterblich? (Was ist mit James Dean?)
In dem ersten der durch stilvolle Schwarzweiß-Aufnahmen getrennten Kapitel schwingt noch am Ehesten die Beobachtung des Außen gegenüber dem Innern mit, werden Erzählungen wie „Polaroids“ und „Garten“ in Gedichten gespiegelt, nur dass der Hoffnungsfunke in „entglitten“ eine meist größere Wirkmacht entfalten darf:
Gib mir eine Vision an einem sicheren Tag. Zeig mir, wo der Frieden lebt. […] Ich verschenke mein Herz aus Mitgefühl, um meine Hilflosigkeit & die Trauer in mir, dir und jedem zu eliminieren. (Blut fließt)
Es wirkt unwirklich, wie du leuchtest, während alles um uns erlischt. Fast tut es weh dich so zu sehen. Und doch weiß ich, dass du ein Kind der neuen Zeit bist, die Veränderung über uns bringen wird. (Hoffnung)
Im zweiten Kapitel wird der Fluchtgedanke transzendiert, entschwindet halluzinogen der grauen Realität. Ein Gefühl der Leere überwiegt und kann nur durch Liebe wieder geerdet werden, womit der Autor im dritten Teil von „entglitten“ wieder ganz bei sich ankommt.
Ich lasse mir Federn wachsen. Hebe mich selbst in den Wind. Hänge meine Träume auf an den Fransen ihrer Jacke. (Blues für eine rote Sonne, Kap. 2)
Wenn wir wollen, können wir alles. Alles außer ein Liebespaar sein. Oh, lass uns heute alles sein. Zumindest für diese eine Nacht. Vielleicht erweicht sich ein Herz & es spielt Liebe, für einen Moment. (Liebesspiel, Kap. 3)
Nachdem Digwa mit dem dreiteiligen „Fallende Engel“ die Schattenseiten dieses verheißungsvollen Fliehens offenlegt und so einen sinnvollen Abschluss findet, folgt mit „Gedankenfluss“ die eindrucksvollste Passage von „entglitten“: Momentaufnahmen, Textskizzen. Flüchtig, nur zum Schein unvollendet. Eine poetische Reise, entstanden an unterschiedlichen Orten und unter verschiedenen Stimmungen.
Ein Lächeln am Fuße von Sacré Couer. Ich umarmte sie & die Sterne strahlten. Orangene Laken & weiße Träume. „Bitte bleib bei mir“ Unverstandene Worte beim Abschied. (Gedankenfluss I)
Gelächter mit Leichtigkeit erfüllt & dabei das Trauergewand im Schatten vergessen. Ein Aufatmen vor dem Herbst. (Gedankenfluss IX)
Dubliner Nacht. Ein alter Mann an der Bar. Sein drittes Glas Guinness. Ein junger Mann setzt sich & prostet ihm heiter zu. Ein Lächeln huscht über das irisch morsche Gesicht. Der Alte fühlt sich für einen Augenaufschlag lang jung. (Gedankenfluss XI)
Mit dem Wiederaufgreifen von „Traumfänger“ endet „entglitten“, gebettet im Wirklichen, und doch den Blick in die Ferne gerichtet. Die Abendsonne Spaniens, das Nachtleben Amsterdams. Und dann: Doch wieder zu Hause ankommen, bei den eigenen Worten, Buchstaben, Texten. Ein würdiges Ende für ein junges und doch erstaunlich reifes lyrisches Werk.
Momente, Erinnerungen, Träume, wir – alle sind wir sterblich. Doch diese Texte sind es nicht. Deshalb schreibe ich. Ein Leben in den Zeilen dieses Buches. (Reisen)
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