Walk the Line
Das Wandern ist des Müllers Lust. Das Wandern ist… Und wo soll so ein Müller eigentlich hin wandern, hä? Hat der nicht zu arbeiten? Der deutsche Frühaufsteher will sein Sonntagsbrötchen, das heißt um 3 Wecker klingeln, aufstehen, backen, Fresse halten, 7 Uhr ins Bett legen. Da ist nix mit Bergsteigen, Stock und Stein im finstern Forst. Und damit hat der Müller dann auch verdammt Recht, denn wandern geht nur, wer für die öffentlichen Verkehrsmittel öffensichtlich zu strunzklug ist.
„Aber die Natur!“ …Ja, sieht man auch auf Postkarten, in Terra-X-Natur-Dokus und aus dem Fenster vom Helikopter schrapp schrapp. Pah! …Gut, zwei Gänge zurück. Hier sprechen wohl die feist einsetzenden Nachwehen eines Hauptgangs der Qualen, der noch nicht halb bis zum Brunch weggefrühstückt ist. Ich bin kreuz und quer die Alpen rauf und runter gelatscht und in die Sächsische Schweiz und durch Tirol. Und die letzten beiden Einträge im Reinhold-Messner-Gedächtnis-Memoriam, Island und Aetna, habe ich mit 10-Euro-Schuhen vom sizilianischen Wochenmarkt gemoonwalked. Aber scheinbar gibt es zwei Dinge, die diese Wundertreter nicht schaffen: Mehr als acht Tage Wandersport ohne Express-Gummierung ihrer einst standfesten Sohle überleben. Und Schotterwege im Allgemeinen.
Kotzbrocken
Auf den Brocken braucht man nicht. Die Schmalspurbahn bringt Asthma, Lungenkrebs und schrotgroße Löcher in den Geldbeutel, oben sieht man nur anhaltische und niedersächsische Brache (wenn man denn mal was sieht) und die überteuerten Fritten im Brockenwirt erreichen mühsam spätes 90er-Jahre-Imbissbuden-Niveau nebst Bedienung im Unverschämtheits-All-Inclusive-Modus. Und zu Fuß will man da erst recht nicht hoch, dabei beginnt alles so idyllisch. Von Ilsenburg sind es 12 Kilometer entlang malerischer Wald- und Flussbettpfade, denen der olle Heine anno damals seinen klangvollen Namen verpasst hat.
Nach halber Strecke unter Wurzeln, Steinen, Matschpfützen und Forstwegen erreicht man die Bremer Hütte, die aber nicht wie Bremen aussieht. Was danach kommt, kann Heinrich so nicht gemeint haben und er wäre wohl selbst gleich wieder umgedreht. Mein erfahrener Kompagnon nennt es erst den nervigen langen Aufstieg, dann den nervigen steilen Aufstieg. Der nervige Lange ist nervig und lang und voll von grobem Kies, was beim Bergauftraben aber noch wenig ins Eigengewicht fällt. Der nervige steile Aufstieg ist eine Geduldsprobe im 20-Grad-Winkel auf alten Militärweg-Steinplatten, in deren Hand-großen Soll-Löchern man sofort stecken bleibt, wenn man es sich wagt, nur kurz den Blick in die Ferne zu schweifen.
Das ist mühsam, das geht in die Knochen, aber man kommt am Gipfel an und ist überraschend wenig zerstört. Man hat ja schon einiges erlebt, nur 2 Stunden 45 gebraucht und so ein paar Meter Klettern drängen einen nicht gleich aus der nächsten Haarnadelkurve. Oben gibt es viele laute Menschen, die viele dumme Sachen sagen und gerade aus dem Bus gestiegen sind, um ein paar gezapfte Hasseröder zu vernichten und dann wieder per Chauffeur-Dienst zurück vor den heimischen Kühlschrank oder die Minibar zu fuhrwerken. Man selbst ist anders, man selbst ist gerade hier hoch getrampt. Und weil die Militärstraße eindeutig zu ätzend ist, nimmt man in Bodenrichtung den langen Weg. Denn der ist flacher, angenehmer. Und an bergab ist nichts flach und angenehm.
Abstieg in die Höllenkreise
Genau jetzt, am höchsten Punkt, entscheidet sich nämlich mein Schuhwerk, seine Dichteverhältnisse nachhaltig in Frage zu stellen. Und jetzt ganz langsam, bevor es eklig wird: Die ersten drei Kilometer geht es über Asphalt und durch das Gefälle fängt man an zu rutschen. So entstehen Fußblasen, die dann halt auch entstehen und man fängt an, die Zähne zusammen zu beißen. Dann kommt der Schotter, 8… lange… Kilometer. Was passiert jetzt, wenn Schuhsohlen und Federung nachgeben und sich über diese Distanz all die kleinen und großen, scharfkantigen und spitzen Steine immer wieder in die frisch entstandenen Fußblasen bohren? Beim Abstieg, das heißt einem gratis Plus an Körpergewicht und Schwerkraft. 8… lange… Kilometer.
Mein Begleiter hat irgendwann Wadenkrämpfe, ist aber ansonsten noch verhältnismäßig tauglich. An diesem Punkt bewege ich mich schon seit 2 Stunden in einer Welt des Schmerzes mit ansteigender Resonanzkurve. Für die letzten 3 Kilometer durch Ilsenburg brauchen wir fast eine Stunde. Am Bahnhof habe ich Angst, bleibe aber wagemutig, entferne zittrig meine Pseudo-Quantenschützer und werfe einen Blick auf das, was ich meinen Füßen in den letzten vier Stunden angetan habe…
Fack ju, Heine
Eines würde ich von Harry Heine gerne wissen, dann kann man den verlogenen Burschen nämlich auch gleich bei seinem rechten Namen nennen. Der Weg hoch ist nach ihm benannt, und was dann? Mit Pferdefuhrwerk zurück nach Wernigerode oder gleich mit Jetpack nach Paris zum bleiernen Ende? Denn so wie wir soll von dieser Geißel eines Mittelberges bestimmt niemand runter.
Unter meinen Fersen finde ich überwölbte Hautquaddeln in Aprikosen-Größe, deren Ränder optisch schon jetzt eher Tomaten gleichen. Ich weiß nicht, wie wir es noch nach Leipzig geschafft haben und wie ich mit dem Rad bis Plagwitz gekommen bin. Ich weiß nur, dass diese jüngsten Kriegswunden zum Folgetag ihr Farbspektrum großflächig um Blau und Braun erweitert haben. Da hilft kein Blasenpflaster mehr, da hilft nur drüber pinseln. An Tag 3 strahlen sie in einem Gelbton über die Hacke aus, der so an handelsüblichen Füßen nicht oxidieren sollte.
Ich lasse Vernunft siegen und quäle mich nicht auf Arbeit, sondern zur Ärztin. Die sticht nicht nur durch die Versuchs-Tumore und mumifiziert meine Füße für die Nachwelt. Die spricht auch mit mir und ich komme ins Grübeln: Heine, Heinrich, Harry, Hämatom. Zufall? Keine Lügen mehr! Ich will die Sänfte ausgegraben sehen, die unseren „letzten großen Dichter der Romantik“ da hoch geschultert hat. Ich will, dass der Brocken als das bezeichnet wird, was er ist. Erichs größter Schotterberg, der gerade noch im Plan bearbeitet werden konnte. Ich will Razzien bei Brocken-Benno, bis jemand seine Raketenstiefel gefunden hat. Und ich will, dass das gesamte Magdeburger Hinterland bis Hannover auf Bahntrassen-Niveau glatt planiert wird. Als Warnung an kommende Generationen. Als mein Vermächtnis!
So. Alles klar. Brockenwanderung ist dann mal von der To-Do-Liste gestrichen… Check.