Begegnung mit dem Tier
Island, 15 Uhr. 9 Grad, Wolken, die Frisur hat wie immer keine Ahnung was sie tut, ist dabei aber immerhin konsequent. Bewaffnet mit dem vermutlich äußerst informativen, aber für den Aufmerksamkeits-defizitären Kleingeist viel zu unübersichtlichen Europcar-Dokumentbündel, welches für die kommenden Tage das Schicksal unberührter Dunkelheits-Schockstarre erwartet, bewegen wir uns in traumwandlerischer Unsicherheit in Richtung des gut gefüllten, sprich proppevollen Mietwagen-Parkareals.
Zwischen eleganten Limousinen, wie üblich viel zu großen Ich-hab-einiges-zu-kompensieren-SUVs und einigen gestählt mammutösen Hochland-Bezwinger-Allradern fällt der Blick auf eine offenbar leer stehende Parzelle, die wohl für den anonymen Club isländischer Einkaufswagen-und-Go-Cart-Afficionados reserviert bleiben soll. Bei behutsamer Annäherung auf geschätzt 80 cm Luftlinie jedoch steht, nein, erhebt er sich plötzlich vor uns und stellt in seiner majestätischen Erhabenheit die Herr-Sklave-Beziehung mit einem Wimpernschlag unverrückbar klar… Ein Kia Picanto. 66 PS reine Motorengewalt, unerbittlich walzende 15-Zoll-Felgen und 900 kg schier erdrückende Leergewichts-Masse. Ich taufe ihn „Bullroc“. Wird er uns als seine devoten Diener akzeptieren? „Buckle up – It’s the law!“ – Wie Ihr wünscht, Meister…
Welcome to Rainbow Town?
Noch bin ich mir nicht sicher, wo ich die auffallend gleichförmig graue Wolkendecke qualitativ einordnen soll, die farblich kohärente flache Geröllsteppe, die wir per zumindest asphaltierter Schnellstraße (90!) gehobener süditalienischer Verhältnisse für die nächsten 50 km kreuzen, hilft bei der Entscheidungsfindung auch nur bedingt weiter. Mit den ersten Blicken auf die Reykjaviker Skyline, eine Melange aus Beton, Stahl, Straßen, noch mehr Straßen und Beton trübt sich die anfängliche Euphorie. Am Hilton schieben wir uns gerade noch vorbei, bevor man uns fälschlicherweise der Gruppe der Bundfaltenhosen tragenden, betagten Senilo-Tourismusklientel zuzählen könnte, um im nicht minder protzig-feudal wie ebenso austauschbaren Reykjavik Lights einzuchecken. Ein Hotel, so gemütlich und individuell, wie ein Hotel nun mal so ist, mit King Size Bett (in zwei Einzelschlafkojen aufteilbar, ein Glück!), Strom per Allround-Keycard, Flachbild-Samsung und auffallend bodennah verbauter Duschkonstruktion, die dafür sorgt, dass man die eigentlich frisch übergestülpten Socken bei allzu naivem Betreten des Badgemachs ganz gerne gleich wieder wechseln darf.
Nun sind wir ja nicht wegen global gültiger 4-Sterne-Sterilität hier, sondern wegen … ähm …ach ja, Wodka mit Kahlua in allen erdenklichen Variationen. Laugavegur klingt wie Salzgebäck, ist aber die Destination für den erstabendlichen Umtrunk. Wird ja auch bald dunkel (den Gag haben wir zu diesem Zeitpunkt freilich null verstanden) und auf der Karte sieht das ganz schön weit aus – Das Schicksal jeder ernst zu nehmenden Megalopole. So ernst zu nehmen, die haben auch ein Opernhaus, welches auffallende Ähnlichkeit mit der Elbphilharmonie aufweist, wohl aber in einem deutlich weniger biblischen Zeitraum aus dem Boden gemeißelt wurde. Überhaupt, wie viel die hier bauen, und trotzdem ist es echt hübsch und gemütlich, obwohl oder gerade weil so gar nichts zusammen passen will. Kein, wirklich kein Haus, Laden, Gebäude, Kirche sieht aus, als würde es oder sie wo es oder sie steht in irgendeiner Form hingehören. Zu verhindern, dass sich der unkoordinierte Wahnsinn isländischer Baukunst auf einem der bekannten Festländer durchsetzen konnte, scheint mir immer mehr die größte Leistung moderner Zivilisationen zu sein. Aber auf diesem Eiland hier, mit seinen nach Ersteindruck tatsächlich vorrangig bärtig-rustikalen Herren, aber auffallend unbärtigen, dafür umso hübscheren, (wenn auch quasi grundsätzlich blonden) Damen, wirkt das alles völlig natürlich, verschroben-sympathisch, urig individuell und wird die erste ganz besondere Besonderheit einer mit besonderen Augenblicken inflationär bestückten Island-Reise darstellen. Dennoch irritiert bald der Hinweis auf das Reykjaviker Penis-Museum. Das steht da wirklich, oder!? Für das Füllen der Facebook-Kommentarspalten genügt ein Beweisbild für’s Erste, der denkwürdige Besuch dieses „Icelandic Phallological Museum“ wird sich jedoch bis Tag 7 gedulden müssen.
Müsli mit Wodka
Und damit sind wir schon durch mit der Innenstadt. Mit Fragezeichen, denn genau das fragen wir uns. An der Lebowski-Bar sind wir schon vorbei, an Chuck-Norris-Grill, Punk Museum, Hard Rock Cafe, menschlichen Skulpturen mit 2 Meter Steinblöcken auf dem Kopf, City Hall, Seen, Meer, kleinen Parks und betont phallisch designten Kirchengebäuden auch – Und stehen bei korrekt angewandter Mathe-Magie jetzt zum dritten Mal an der belebt-verwuselten Straßenecke, an der eben noch diese geschätzt 13-jährige Nachwuchs-Supergroup bewaffnet mit Klampfe, Bass und Schlagzeug die Gegend gerockt hat. Ist ja doch recht überschaubar. Soll heißen, mittels unserer Gerlinde gesagt übermenschlichen Orientierungsgabe haben wir auf Anhieb die Hot Spots des Reykjaviker Abend- und Nachtlebens ausfindig gemacht. Laugavegur, die Salzstangen-Straße, die Karli Reykjaviks, remember? Die Schrittzähler-App meint wiederum, wir haben das heute bisher schon gar nicht schlecht gemacht.
Gut, auf also in Dud-eske Gefilde. Happy Hour gerade rum, aber wie teuer soll das hier schon werden (Du Narr!). 1000 Kronen für ein gezapftes Tuborg, sind ja auch nur läppische 9 Euronen, pah! Sind sicher eh nur Touri-Preise (Elendiger Narr!). Und für einen Honey Boo Burger mit Honey-glazed Bacon dürfen es auch gerne 20 Taler sein. Die Wow-Air-Zettelage zumindest spricht wahr, aus über 20 White Russian-Optionen könnte gewählt werden, würden diese nicht den Burger-Preis noch in die Tasche wuchten. Der Cocaucasian, die Irrwitzigkeit meiner Wahl, kommt dann auch als amtlicher Russe mit Nestlé Coco Pops Bonus daher. Die isländische Auslegung eines vollwertigen Müsli-Frühstücks werde ich jedenfalls zur weiteren Feinabstimmung gedanklich mit nach Hause nehmen. Dazu gibt’s Jeff-Bridges-Servietten, Bowlingkugeln und Pins, die im 90°-Winkel an der Wand kleben, schummrig-buntes 70er-Jahre-Ambiente nebst semi-deutlichen Hinweisen, nicht auf den Teppich zu pinkeln. Und so eine Musikauswahl zwischen Red Hot Chili Peppers und Queens of the Stone Age passt sowieso immer gut rein.
Welcome to Rainbow Town!
Es geht auf 21 Uhr zu, was machen wir denn jetzt noch? Die Sonne lässt sich ja mittlerweile auch blicken. Wir werden feststellen, das ist ein Island-Ding, so nach Ladenschluss meint Frau Sonne, jetzt könnte ich ja auch mal Hallo sagen und dann scheine ich ‘ne Runde bis, sagen wir, bis es morgen früh halt wieder wolkig ist. Stimmt, das ist ja Polarnähe hier. Sag mal, wird das hier überhaupt dunkel? Nee, ne!? Okay, also nochmal kreuz und quer durchs Stadtgebiet, ist ja schnell gemacht. Und mittlerweile macht Reykjavik richtig Spaß (Nein, sind nicht betrunken, Viel zu teuer, Mensch!). Touri-Fallen, Ladenstraßen, alternative Ecken, Gewerbegegenden und ruhige Beverly-Hills-Vororte liegen derart dicht beieinander, dass man an nahezu jeder Straßenecke etwas Neues entdeckt.
Und wie war das mit dem Bau-„Stil“? Der Begriff „Rainbow Town“ wird mir zwar erst an Tag 5 in die zarten Pfoten flattern, aber recht haben Sie, die Postkarten-Gurus. Entweder überfarbig oder anderweitig der Albtraum jedes Bauabnahme-Qualitätsprüfungs-Fachangestellten. Da gibt es Häuser, die haben 2 Etagen, unten weiß verputzt, Obergeschoss in schreiend buntem Wellblech, und links anklatschend ein 3-Etagen-Türmchen in gediegenster grau-brauner Kühlungsborn-nach-Wende-Sprühbeton-Romantik. Bescheuert, aber gefällt.
Und hatten wir nicht eigentlich vor, ins ‚Bravo‘ zu gehen, um beim Konzert in Island-typisch leicht melancholischer Dance-Pop-Atmosphäre noch etwas Lokalkolorit zu tanken? Ein Glück, dass die nächsten Tage trotz allen gern mitgenommenen Ablenkungen zielführender nach Hause gebracht werden, dieses Auf und Ab und Gegenwägen der altersbedingten Freitag-Abend-Spießigkeit hält auch der stärkste Wikinger nicht durch. Aber gut, der bis dato ultra-lange Tag, der irgendwann in Leipzig bei Kaffee-losem Apfelfrühstück begonnen hatte, fordert langsam seinen Tribut. Anstrengendes wird kommen, für heute sind wir durch, die 24.000 gezählten Schritte spielen für uns schon auf der kleinsten Geige der Welt. Zurück also ins Hotel, die Beine werden jetzt aber auch schwer, war der Weg vorhin nicht kürzer, ist doch gar nicht so groß hier. Ist das ‘n Plattenladen da, hat der schon zu? Und wieso gibt‘s hier überall eigentlich so viele Amis?
Bin grad schon wieder gedanklich die Straßen abgelaufen. Stilistisch stringent, deine Schreibe. Stilistisch stringenter als die Bauwerke in Reykjavik allemal…
War gar nicht so einfach, der erste „richtige“ Island-Text, da wir ja ab Nachmittag doch recht planlos durch die Gegend existiert sind. Sobald es mit Bullroc auf die Reise geht, wird’s etwas stringenter bzw. mainstreamiger 🙂
Ich bin dabei… 🙂
Aber Hallo! 🙂