Barns Courtney – The Attractions of Youth
Blues, Rock’n’Roll, Grunge, Pop
28.09.2017 / Virgin EMI Records / 44 min
Mit dem Haus in die Tür gefallen
Es gibt ja so unzählig mehr oder minder akzeptable Gründe, Musik zu hören. Für das dissonante Rauschen im Hintergrund (…nein!), für Workout oder Entspannung (…okay), um die alten Helden aus verklärt besseren Zeiten hochleben zu lassen (…warm), weil man Musik einfach fantastiggerisch findet (…wärmer) oder weil man sich so gerne immer wieder aufs Neue überraschen lässt (…Treffer!). Insbesondere von Dingen, die auf dem Papier erst einmal medioker, gähnend altbacken bis fürchterlich anbiedernd klingen.
Fallbeispiel: Ein Mitt- bis Endzwanziger (Millennial-Awareness-Alarm!) aus England (Britpop-Angriff!), der die Hälfte seines jungen Lebens in Seattle aufgewachsen ist (Klischee-Kiste öffnet sich) und irgendwas zwischen Modern Blues (Danke, Johnny…) und Post-Grunge (Danke, Grunge…) vor sich her gurgelt. Alles irgendwie punkig (Nichts zu danken, Punk.), möglichst High Energy (Klischee-Kiste ächzt…) und mit Imagine Dragons Pop-Appeal. Schwierig an dieser Stelle: Zustimmend nicken oder vielleicht doch würgen gehen?
Ja, genau! Genau so! Das ist Barns Courtney. Alles zusammen klauben, was nicht bei Drei auf dem Retro-Klitsche-Baum mit harziger Hipster-Fettbemme-Glasur ist und das dann ungefragt unter die Leute schmeißen. Konnte ja niemand ahnen, den Kerl kannten vor 2017 doch nur ausgewählte Fehlverführte. Und danach auch oft nur die, die sich das letzte Prodigy-Album ‘No Tourists‘ freiwillig bis zum verloren geglaubten Lichtblick-Finale ‘Give me a signal‘ und dessen Feature-Gast angetan haben.
Aber hier hüpft der springende Punkt im Dreieck: Unrunder als eckig, haarig über jede Faser und herben Eigenschweiß absondernd. Denn dieser vermeintlich zum Abziehen gescheiterte Bildversuch Barns Courtney macht in etwa alles richtig, was ehrlicherweise nicht anders als falsch geht: Der selbst erhobene Überkritiker sitzt fassungslos vor dem, was ihm die Boxen da an die nicht desinfizierte Hand geben: Viel zu viel Pomp, überviel zu viel Druck und Geschrammel. Und ein Level an Catchyness, welches sich der Sinnhaftigkeit des „Refrains“ inmitten seiner typisch 3-minütigen 400-Volt-Eruptionen nie gestellt hat.
Courtneys Debut „The Attractions of Youth“ ist eine dieser selten unter die Nase geschobenen Petrischalen, in denen sich die Faszination für Musik immer weiter teilt, größer wird, das halbe Handeln und Denken einnimmt. Man ist ja grundsätzlich abgehärtet und hat Erfahrungswerte – man weiß, das knallt alles viel zu schnell und gut rein, um langfristig bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Aber für diesen einen Moment ist genau DAS dieser hell aufleuchtende Stern, der höchstens noch von der kosmischen Fügung überstrahlt werden konnte, als Oprah entsandt wurde, um die Welt der Bücher und uns alle zu erretten.
Barns Courtney, Barns Courtney posing for photoshoot, CC BY-SA 4.0
Und wenn hier nach fünf Absätzen noch keine Anspieltipps stehen, dann hat das seinen Grund – Zu viele! Sonst wäre nach Absatz 3 schon Testbild. Der Opener „Fire“ ist vielleicht noch ein wenig handzahm und geordnet, gibt aber zumindest die Marschrichtung vor. Und auf dieses Album darf man sich auch vorbereiten müssen. Das folgende „Glitter & Gold“ geht bereits um Welten zwingender von der elektrisierten Crooner-Lende, würde in einem gut sortierten Formatradio aber immer noch seinen Platz finden. Ein bisschen tief in der Blues-Plattitüden-Kandarre fuhrwerkt es halt schon, aber hier zählen die Gebrüder (grummelnde) Ursache und (berstende) Wirkung – das Prodigy-Feature ergibt immer mehr Sinn.
Spätestens bei „Hands“ brechen dann alle Dämme. Was hier zwischen Blur, White Stripes, der erweiterten Elvis-Beinspreize und wütendem Bajou-Harmonikant mit Ganzhaargesicht stattfindet, passt auf keinen Bison-Testikel. Und fühlt man sich mit dem hinterher polternden „Golden Dandelions“ in mildem Airplay-Fahrwasser halbwegs sicher, sind die „Hab-dich!“-Messerchen für die Rückenpartie längst gewetzt. Und man ahnt noch immer nicht, wie groß die Rock’n’Roll-Geste mit „Hellfire“ werden wird und mit welch Chuzpe das anschließende „Hobo Rocket“ nach kurzem Spoken-Word-Intro unstandesgemäß selbst winzigste Zellorganismen nieder trampelt. …Und wir sind hier erst bei Song 6, das geht munter so weiter. Weezer-Falsett („Never let you down“), Arctic Monkeys in Späti-Laune („The Attractions of Youth“), gefühlvolle Cash-Hommage („Goodbye John Smith“), Verstärker auf 11 und Mikro auf übersteuert („Kicks“) – You name it!
Einige Fakten muss man sich dabei stets vor Augen halten: Ja, man denkt hin und wieder (z.B. bei „Champions“) unweigerlich an Imagine Dragons. Ja, das ist alles viel zu dick produziert für einen blutjungen No-Namer. Man erinnert Kurzwelle-Frühstücksfrequenz und Alternative Playlists im Bezahlfernsehen. Und es ist – ganz allgemein – alles viel zu …fettig! Alles an Barns Courtneys Debut ist auf optimale Resonanz ausgelegt, womit er beileibe nicht der Erste ist.
Diese „maximale Wirkung“ funktioniert oft kurzfristig. Es ist dieses „Boah, genau dieses Kitzeln im Ohr und in den Beinen habe ich lange wieder gebraucht“-Gefühl. Alles brettert, nimmt ein, liefert Information Overflow. Und oft bleibt nach der großen Welle die selbst für Ostsee-Verhältnisse zu lahme Ebbe. Barns Courtney ist zumindest einen guten Weg gefahren, indem er gar nicht erst versucht hat, eine Single-Scheibe zu produzieren. „The Attractions of Youth“ fließt in seinen 44 Minuten wie Honig durch Gullideckel und kennt fast nur Superlative. Glücklicherweise wird hier der 2019er-Zweitling „404“ nicht besprochen und bleibt auch vorerst eingeschlossen. Darüber sollte man erst mit Barns selber reden…
- Fire
- Glitter & Gold
- Hands
- Golden Dandelions
- Hellfire
- Hobo Rocket
- Hobo outside Tesco, London Interlude
- Champion
- Kicks
- Never let you down
- Goodbye John Smith
- Little Boy
- Rather die
- The Attractions of Youth
Highlights:
- Glitter & Gold
- Hands
- Hellfire
- Hobo Rocket
- Goodbye John Smith
- Rather die
Ist 404 eine Anspielung auf 101? Und will ich das wirklich wissen?
Ich hätte instinktiv gedacht, es geht um den Fehlercode im Internetz. Kann das aber auch nicht mit Bestimmtheit sagen.