Chelsea Wolfe – Hiss Spun (Review/Musik)

Die Review zu „Chelsea Wolfe – Hiss Spun“ ist Teil der Reihe „Les nouvelles Grandes Dames schwermütiger Rock-Musik“.

Flickr user EsotericSapience, Chelsea Wolfe 2013CC BY 2.0

Chelsea Wolfe - Hiss Spun

Sludge Metal / Doom / Experimental Rock

22.09.2017 -- Sargent House -- 48:19 min

„To embrace the mess of yourself“

Tiefer konnte sie wahrlich nicht mehr fallen. Nachdem Chelsea Wolfe mit ihrem 2015er Meilenstein „Abyss“ die hintersten Winkel ihres zerrütteten Seelenlebens in Fetzen gerissen hatte, blieb am pechschwarzen Grund des Abstiegs nichts als quälende Leere. „Abyss“ war ein Monument aus klirrend kaltem Industrial und hymnischer Entrücktheit, von vernichtender Trauer und schmerzender Schönheit. Doch wo soll die Reise jetzt noch hingehen, was bleibt als mögliche Konsequenz außer der völligen Auflösung der Chelsea Joy Wolfe? Wie so oft aber vermag schonungslose Offenheit, vor allem sich selbst gegenüber, eine reinigende Wirkung zu entfalten. Die Künstlerin kehrt zurück nach Kalifornien, in die Heimat nahe Sacramento, sammelt sich und beginnt in der Enge ihres Elternhauses an neuen Ideen zu schreiben.

Deutlicher als zuvor lässt sie Raum für äußere Einflüsse, fügt den gewohnt interpretativ offenen Lyrics zusätzliche Bedeutungsebenen um den desolaten Zustand von Welt und Gesellschaft hinzu. Ein Gefühl der Überwältigung, wie Wolfe es beschreibt – und sich in ihrem bis dato aggressivsten Output widerspiegelt. „Hiss Spun“ ist ihr Metal-Album, durchtränkt von tonnenschwerem Doom und räudigem Sludge. Aber auch ein Album mit zahlreichen Widerhaken, in elegischer Dunkelheit und Schutzlosigkeit, ein Aufbäumen Wolfes gegen sich, ein Erkennen und Verarbeiten ihrer selbstzerstörerischen Tendenzen.

„In this era, everyone is expected to really have their shit together at all times and present it as such on social media, but it’s okay to embrace the mess of yourself. That’s the first step towards personal growth.“ – Chelsea Wolfe

Mehr denn je beeinflussen die Leute um Wolfe den Sound ihrer fünften Studioarbeit. Die Entscheidung, bei Kurt Ballou (Converge) in dessen GodCity-Studios zu produzieren, hätte sie nicht besser treffen können, verleiht er doch jedem Instrument neben wuchtiger Härte die gebotene Luft zum Atmen. Wichtig für Ben Chisholm, Bassist und langjähriger Weggefährte, der mit experimentellen Klangcollagen und dem das Album durchziehenden weißen Rauschen eine sinistere Spannung erschafft. Wichtig auch für Troy van Leeuwen (Queens of the Stone Age), der in der ersten Kollaboration mit der Musikerin mit seinem markant-fließenden Riffing für die nötige Erdung sorgt. Am bedeutsamsten jedoch für Drummerin Jess Gowrie, die mit Wolfe vor Jahren bei Red Host gespielt hat und deren Wege sich jetzt wieder kreuzen. Als fester Band-Bestandteil setzt sie mit ihrer variablen Technik und schleppenden Rhythmik die prägendsten Akzente auf „Hiss Spun“, wie gleich das zähfließend dissonante „Spun“ eindrucksvoll beweist. Einem bleiernen Katarakt gleich bewegt sich der Opener vorwärts, während Wolfe von Selbstgeißelung und Zurückweisung singt. „You leave me restless, you leave me hung. You leave me coiled, you leave me spun.”

Das folgende “16 Psyche” ist nicht nur ihr bisher zugänglichstes Stück und mit seinen unbestreitbaren Ohrwurmqualitäten einer der besten Rock-Songs des Jahres, sondern besticht durch ein hymnisch-verzerrtes Solo van Leeuwens. „Vex“ setzt im Anschluss dem Einstieg in „Hiss Spun“ die wütende Krone auf, näher war Wolfe nie am Black Metal. Lyrisch kulminiert das Duell zwischen den Manifestationen ihres Ichs – „Perfect psychosis, noiselessly whirrs“ –, während die gutturalen Growls des großartigen Aaron Turner (Isis, Old Man Gloom, Sumac) ihren Konterpart übernehmen: „Come, destroyer. We’ll fight with claws and teeth.”

“I wanted to write some sort of escapist music, songs that were just about being in your body, and getting free.”  – Chelsea Wolfe

Während das Körperliche und Seelische die erste Viertelstunde dominiert, öffnet sich „Hiss Spun“ thematisch immer weiter, ohne seine Dualität zwischen Persönlichem und dem Blick nach Außen aufzugeben. So streift das atmosphärisch dichte „Particle Flux“ die Schicksale syrischer Flüchtlingsfamilien – „Flux of terrain. We’ve been on before. Made it through oblivion, then they close the door”. Das maschinelle “Offering” erzählt aus Sicht der Natur vom Sterben des Salton Seas und individueller Vereinsamung: “Here a fount in the desert, it was more than I could be. Human life as a lesson, you will see the mess of me.” Und “Static Hum” verharrt noch unbestimmter zwischen Krieg, Elend und der Kapitulation vor den eigenen Dämonen. „They gave you to war, gave you away. Garden of stones marks the debt.”

Gerade in dieser zweiten Albumhälfte entfaltet das unkonventionelle Songwriting Chelsea Wolfes seine größte Wirkung, entblättert sich in Zwischentöne aus Ambient und finsterem Folk, kulminierend in der elektronischen Kakophonie von „Welt“. Hier spricht sie ihr leitmotivisches Mantra „Flux, Hiss, Welt, Groan“, den roten Faden aus Schmerz, Hoffnung, Leben und Verlust, kondensiert auf einen allgemeingültigen Nenner:

“Flux represents movement and flow. Hiss is life force and white noise. Welt is the brutality of life. Groan represented sensuality and death.“ – Chelsea Wolfe

Am beeindruckendsten ist „Hiss Spun“ immer dann, wenn es sein musikalisches Panoptikum aufeinander prallen und in sich kollabieren lässt wie in dem monolithischen „The Culling“ und dem Highlight „Twin Fawn“: Fragilität und Destruktion sind untrennbar miteinander verbunden, bis sie sich in einem brachialen Gewittersturm gegenseitig auslöschen – und über allem thront Wolfes geisterhaft-sakrale Sanftmut, während sie sich flehend gegen ihre Selbstaufgabe stemmt: „You cut me open, you lived inside. You kill the wonder, nowhere to hide.”

Dieses Ungeschönte, diese ehrliche Verzweiflung ist es aber, die an anderer Stelle fehlt. Sicher ist es eine der versiertesten und stärksten Rock/Metal-Platten 2017 – Nur ging es bei Chelsea Wolfe stets weniger um Perfektion als um die Seele ihres Schaffens. „Hiss Spun“ kann unbequem sein, aufrütteln, nur muss der Zuhörer dafür ein gutes Stück entgegen kommen. In seinem offensiv-kämpferischen Ansatz ist dieses jüngste Werk geordneter, hält seine Emotionen im Zaum, lässt weniger Zerbrechlichkeit und Chaos zu. Die erschütternde Aufrichtigkeit von „Abyss“ und die morbide Gänsehaut von „Pain is Beauty“ finden seltener statt – Zumindest bis das abschließende „Scrape“ mit scharfen Krallen und fletschenden Zähnen die Apokalypse einläutet und doch noch sprachlos zurücklässt. Hier bricht sich das weiße Rauschen erneut Bahn, aus dem Wolfe lauernd und in immer hysterischere Höhen emporsteigt. „Scrape“ ist ein Biest, welches über 45 Minuten im Schatten von „Hiss Spun“ erwachsen ist und nur Asche hinterlässt. Und damit ist Chelsea Wolfe wieder am Anfang, schreitet über verbrannten Boden. Nur hat sie dieses Mal das Feuer selbst gelegt.

  1. Spun
  2. 16 Psyche
  3. Vex
  4. Strain
  5. The Culling
  6. Particle Flux
  7. Twin Fawn
  8. Offering
  9. Static Hum
  10. Welt
  11. Two Spirit
  12. Scrape

Highlights:

  • Spun
  • 16 Psyche
  • Particle Flux
  • Twin Fawn
  • Scrape
Bewertung 5.0

Chelsea Wolfe - 16 Psyche (Official Music Video)

2 Gedanken zu „Chelsea Wolfe – Hiss Spun (Review/Musik)“

    1. Okay, ist das optisch echt nicht so deutlich? (ernst gemeinte Frage). Also es gibt sechs Kreissegmente, das letzte Segment ist leer… …Wobei die 5.0 in diesem Fall wohlwollend sind, hauptsächlich wegen der technischen Klasse. Intuitiv eher ne 4.5.

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