Musik! Überall und immerfort! Das Leben ein einziger Soundtrack, ob zu Hause, im Zug, in der Tram, auf Konzerten, in Bars oder auf dem Fahrrad (…natürlich nicht auf dem Fahrrad, das macht man nämlich nicht…!). Jedes Jahr aufs Neue gibt es so viele weniger bekannte Künstler und gestandene Bands mit neuem Output zu entdecken, dass der ganze grenzdebile Airplay-Mist gar nicht weiter ins Gewicht fällt. Darunter die besten Alben zu finden ist nicht nur wie immer höchst subjektiv, sondern auch alles andere als leicht. Fest steht: Die Frauen haben dieses Jahr glasklar gewonnen. Drei Singer-Songwriterinnen, eine Gruppe mit weiblichem Gesang, und die einzige Altherren-Gesellschaft kriegt vor lauter Instrumentalem den Mund kaum auf. In diesem Sinne: Auf die Ladys!
05: Vök – Figure
Der Heimat Björks und Sigur Rós‘ entstammt die junge, vierköpfige Dream-Pop-Band Vök, die es sich im Spannungsfeld introvertierter Massive-Attack-Elektronik, schüchterner The-XX-Romantik („Crime“) und verfremdender Poliça-Verspieltheit („Figure“) gemütlich macht. In elegischer Zerbrechlichkeit entwerfen die Jungs und Frontfrau ein Wechselspiel aus Licht und Schatten, aus Melancholie und Hoffnung, welches umarmt und auf eine schlafwandelnde Reise mitnimmt, in einen Hall-geschwängerten Schwebezustand, wie ihn so wohl nur Kinder Islands zu erschaffen im Stande sind. Ihr Debut besticht mehr über Atmosphäre und pointierte Soundelemente denn über eine geschlossene Struktur. Doch wo ein derart bittersüßer, Nebel verhangener Soundtrack des Augenschließens und Fallenlassens schnell die Gefahr birgt, dass die Gedanken kreisen, man sich vom Kern der Musik entfernt, zieht die Gruppe den Hörer immer tiefer auf den düsteren Grund des Eismeeres („Floating“, „Lightning Storm“), um ihn mit „Hiding“ in ein umso wärmeres, kraftvolles und überraschend poppiges Finale zu entlassen.
04: Chelsea Wolfe – Hiss Spun
Nachdem Chelsea Wolfe mit ihrem 2015er Meilenstein „Abyss“ die hintersten Winkel ihres zerrütteten Seelenlebens in Fetzen gerissen hatte, blieb am pechschwarzen Grund des Abstiegs nichts als quälende Leere. „Abyss“ war ein Monument aus klirrend kaltem Industrial und hymnischer Entrücktheit, von vernichtender Trauer und schmerzender Schönheit. Für „Hiss Spun“ gibt sie deutlicher als je zuvor Raum für äußere Einflüsse, fügt den gewohnt interpretativ offenen Lyrics zusätzliche Bedeutungsebenen um den desolaten Zustand von Welt und Gesellschaft hinzu. Ein Gefühl der Überwältigung, welches sich in Wolfes bis dato aggressivstem Output widerspiegelt. „Hiss Spun“ ist Wolfes Metal-Album, durchtränkt von tonnenschwerem Doom und räudigem Sludge. Aber auch ein Album in vereinnahmender Dunkelheit und Schutzlosigkeit, wobei gerade in der zweiten Hälfte ihr unkonventionelles Songwriting seine größte Wirkung entfaltet und sich in Zwischentöne aus Ambient und Folk entblättert. Dennoch ist Chelsea Wolfes jüngstes Werk geordneter, hält seine Emotionen im Zaum. Der Zuhörer ist gefordert, dem unbequemen „Hiss Spun“ entgegen zu kommen, will er sich aufrütteln und mitreißen lassen.
03: Mogwai – Every Country’s Sun
Trotz der Pioniersarbeit, die Mogwai seit zwei Dekaden für den Post Rock leisten, ist der Rezensent mit den Glasgowern nie ganz warm geworden, besonders als sie in späteren Outputs ihren Sound immer mehr dem Experiment öffneten, Songs eher skizzenhaft erdachten anstatt einer klaren Dynamik zu folgen. Mit „Every Country’s Sun“ jedoch zelebrieren Mogwai ein Best-Of des eigenen Schaffens, eine (selbst)zufriedene Rückschau, die eingefleischten Fans nicht unbedingt schmecken wird. Sie destillieren ihren Output auf einen gemeinsamen Nenner und nivellieren unerwartet zugänglich die Kompromisslosigkeit, mit der sie sich sonst in neues Terrain vorgewagt haben. „Every Country’s Sun“ ist aber auch ein Statement, wie moderner, perfekt inszenierter Post Rock mit Ambient- und Elektronik-Schlagseite zu klingen hat. Alleine die letzten vier Stücke gehören zu den erhabensten Momenten des Musikjahres. Das behutsam aufgebaute und sich doomig entladende „Don’t beliefe the Fife“, das wild schrammelnde „Battered at a Scramble“, das in seiner unbändig punkigen Energie an „Batcat“ erinnernde „Old Poisions“ und der euphorisch abschließende Titeltrack – das alles ist ganz großes Songwriting-Kino.
02: Lorde – Melodrama
Es hätte so vieles schief gehen können mit dem schwierigen zweiten Album: Wenn man wie Lorde mit gerade einmal 16 Jahren über Nacht zum Sprachrohr einer ganzen Generation avanciert, die sich selbst eher selten auf der lichten Seite des Lebens sieht, und Starruhm ausgesetzt ist, den man so nie gesucht hat, dann kann das eine junge Person in ihrer Selbstfindung schnell aus der Bahn werfen. Ella Marija Lani Yelich-O’Connor jedoch zieht sich in die heimatliche Abgeschiedenheit zurück und werkelt an dem Zweitling „Melodrama“, der scheinbar spielend den imposanten Vorgänger in den Schatten stellt und sich stilsicher und selbstbewusst zu einem der versiertesten Pop-Alben der letzten Jahre hoch spielt. „Melodrama“ ist zugleich größer und intimer, schüttelt im Vorbeigehen ohrwurmige Hit-Garanten wie „Green Light“, „Supercut“ und „Perfect Places“ ebenso lässig aus dem Ärmel wie ehrliche Balladen („Liability“) und verschrobene, antiklimatische Arrangements („The Louvre“, „Hard Feelings / Loveless“) – und zeigt bei „Writer in the dark“, dass es diese jetzt 20-Jährige mit dem wallenden dunklen Haar stimmlich mittlerweile gar mit einer Kate Bush aufnehmen kann. So und nicht anders muss gleichsam eingängiger wie anspruchsvoller Pop 2017 funktionieren.
01: Zola Jesus – Okovi
Manfred Werner – Tsui, Zola Jesus – WAVES VIENNA2011 e, CC BY-SA 3.0
So großartig Nika Roza Danilova alias Zola Jesus auch immer war, mit einer derartigen Steigerung konnte man kaum rechnen. Es ist schon erstaunlich, wie die Künstlerin angesichts einer lähmenden Schreibblockade und tragischen familiären Vorfällen die Energie für ihre fünfte Studioarbeit aufbringen konnte. Umso beeindruckender, wie mutig sie mit „Okovi“ ihren Ängsten gegenüber tritt und zu ungeahntem Selbstbewusstsein erwächst. Selten waren die Entstehung eines Albums und dessen Texte enger umschlungen, „Okovi“ erzählt eine Geschichte – die Geschichte seiner eigenen Entwicklung und die seiner Künstlerin. Erzählt von dem Konflikt mit persönlichen Schwächen, der helfenden Hand gegenüber Anderen, Sinn und Sinnlosigkeit von Leben und Handeln angesichts unausweichlicher Endlichkeit – und der Akzeptanz dessen als Weg zu Ruhe und Katharsis. Einzelne Highlights soll man dabei gar nicht herauspicken müssen, nahezu jeder Song ist eine Klasse für sich und fügt sich natürlich in dieses harmonische Gesamtkunstwerk ein. „Okovi“ ist Danilovas ureigene Reise ihrer Selbstfindung. Ein Kraftakt, an dem sie ihr Publikum ungeschützt und verletzlich teilhaben lässt, derart intim und aufrichtig war Zola Jesus nie zuvor. Und es zeigt eine gewachsene Songwriterin, die nicht mehr nur das Ende zu ergründen sucht, sondern Existenz in all seinen niederschmetternden und hoffnungsvollen Facetten begreift.
Hmmmm, irgendwie hatte ich dann doch das mainstreamigere deiner vorgestellten Werke auf Eins vermutet.
Das wird heute gewissermaßen noch nachgeholt 😉
Schon bemerkt.