Schloss aus Glas – Review / Film

Schloss aus Glas - Trailer (Official)

Schloss aus Glas

Drama / Tragi-Komödie / Biografie

21.09.2017 (D) -- 127 min

R:
Destin Daniel Cretton

D:
Brie Larson, Woody Harrelson, Naomi Watts, Ella Anderson

Vom Leben lernen 

97 Minuten waren es im Jahr 2012, die in ihrer ebenso aufwühlenden wie hoffnungsvollen Intensität nicht nur völlig überraschend kamen, sondern auch als eine der mitreißendsten Filmperlen Eingang in den kollektiven Independent-Kanon gefunden haben. Destin Daniel Crettons „Short Term 12“, seine stille, auf eigenen Erfahrungen beruhende Beobachtung der Umstände und Arbeit in einer Betreuungseinrichtung für schwierige Teenager lebte von seinem ehrlichen Verständnis, wesentlich zum Leben erweckt durch die damals noch weitgehend unbekannte, leidenschaftlich aufspielende Hauptdarstellerin Brie Larson. Nachdem sich Larson mittlerweile in verqueren Räuberpistolen wie „Free Fire“ austoben, mit King Kong am Mainstream anklopfen und für „Room“ verdiente Oscar-Würden abholen durfte, trifft sie erneut mit Cretton zusammen, um den autobiographischen Roman „The Glass Castle“ der Kolumnistin und Autorin Jeannette Walls auf die Leinwand zu befördern.

Deren Memoiren rund um ihr bewegtes Aufwachsen inmitten zweier freigeistiger Eltern, ohne festen Wohnsitz und geregelte Schulbildung, dafür mit umso mehr Träumen und Phantasiegebilden, zwischen liebevoller Aufopferung und familiärem Scherbenhaufen, scheinen wie gemacht für die Charakter-Darstellerin und den feinfühligen Regisseur. Und während Naomi Watts als Mutter Rose Mary endlich wieder beweisen kann, wie viel Verlorenheit und Ambivalenz sie einer vergleichsweise kleinen Nebenrolle zu schenken in der Lage ist, zeigt Woody Harrelson als hochintelligenter und hingebungsvoller Vater wie auch als destruktiver Alkoholiker eine der menschlichsten und facettenreichsten Leistungen seiner Karriere. Keine Frage, „Schloss aus Glas“ ist großes Schauspiel – Leider verhindern die sprunghafte, weil einen viel zu großen Rahmen spannende Inszenierung und der stellenweise unausgeglichene Tonfall aus Tragik und Begeisterung, dass es auch ein durchweg überzeugender Film ist.

Die erfolgreiche New Yorker Klatsch-Kolumnistin Jeannette Walls (Brie Larson) ist auf dem Weg mit dem Taxi nach Hause, als sie in dem Müll durchwühlenden, renitenten Obdachlosen-Pärchen ihre Eltern Rex (Woody Harrelson) und Rose Mary (Naomi Watts) erkennt. Konfrontieren lässt sie sich mit den beiden nicht, hat sie doch mit den Trümmern ihrer Vergangenheit abgeschlossen, sehnt sich nach gemütlicher Dinner-Party-Ordnung und wird ihren angetrauten Finanz-Analysten David (Max Greenfield) bald ehelichen. Dennoch lässt sie sich auf ein Treffen mit ihrer lange fremd gewordenen Familie ein, welches unweigerlich alte Wunden aufreißen und vergessen Geglaubtes zurück holen wird… Jahrzehnte zuvor wird die 3-jährige Jeannette (Olivia Kate Rice) mit schweren Verbrennungen ins Krankenhaus befördert, nachdem sie sich dem Gasherd zu weit genähert hatte, ohne Aufsicht ihrer in Stillleben-Malerei versunkenen Künstler-Mutter.

Doch es dauert nicht lange, dass sie Vater Rex unter Wolfsgeheul aus dem Pflegebett und in die Weite des amerikanischen Hinterlands befördert, denn auf der Straße ist Familie Walls eigentlich fast immer. Ohne Geld, in heruntergekommenen Häusern lebend, ständig auf der Flucht vor Schuldnern – oder dem FBI, wie es das charismatische Familienoberhaupt gerne behauptet. Immer dabei sind seine über Jahre perfektionierten Ingenieurs-Pläne für das Schloss aus Glas, welches er seiner Frau und den vier Schützlingen bauen will. Neben der Hingabe, mit welcher der brillante Autodidakt seinen Kindern den Wert des Lebens zu vermitteln versucht, eben auch eines von vielen Luftschlössern, mit denen er bald nur noch die lange an seiner Gutherzigkeit festhaltende jugendliche Jeanette (Ella Anderson) begeistern kann. Denn als die Familie Walls ohne Bleibe und ohne Nahrung in die Heimatstadt von Rex‘ Familie zurückkehren muss, bekommt seine Fassade aus verdrängten Erinnerungen größere Risse, lässt ihn sein immer exzessiverer Alkoholkonsum zum verantwortungslosen Monster werden. Bald schmieden Jeanette, ihr jüngerer Bruder und ihre zwei Schwestern Pläne, ihrer in Armut und Leid versinkenden Familie zu entfliehen…

„It’s the struggle that gives it it’s beauty“ – Rose Mary

„Schloss aus Glas“ folgt einer episodischen Struktur aus Gegenwartsbeschreibungen und Flashbacks und setzt sich damit einem Problem aus, welches der Film nicht überwinden kann: Einerseits biografisch den Weg der Familie und die unstete, von Höhen und immer größeren Abgründen geprägte Entwicklung der Jeanette Walls biografisch nachzuzeichnen, andererseits ein persönliches Drama zu sein, für das es das bedachte Auswählen prägender Momente in Ruhe und mit Fingerspitzengefühl gebraucht hätte. Darunter leidet zuvorderst Brie Larson als erwachsene Jeanette, deren steife Szenen in New York 1989 immer etwas aus dem abenteuerlichen Grundton der Rückblenden-Story fallen. Als Inkarnation der Jeanette aus späteren Teenager-Jahren kann Larson zwar mit Vielschichtigkeit glänzen, aber da schnell klar wird, in welche Richtung sich „Schloss aus Glas“ bewegt, vermisst ihre Erwachsenen-Figur die nötige Tiefe, sind ihre inneren Kämpfe immer offensichtlich.

Das Drehbuch, an dem Cretton mitgeschrieben hat, erliegt auch vielmehr der Faszination der Figur des Rex Walls, dem Philosophen mit großen Ideen und immensem Tatendrang, und hilflosem Spielball der eigenen Schwäche. Es ist das Verdienst von Woody Harrelson, die gesamte Bandbreite zwischen bedingungsloser Zuwendung und vernichtender Tyrannei glaubhaft zu transportieren. Nur kann sich der Film auch nie von der Versuchung lösen, diesen Rex Walls als Opfer seiner inneren Dämonen zu stilisieren und nivelliert dabei das zerstörerische Moment seines traumatisierenden Verhaltens, fungiert „Schloss aus Glas“ allzu oft als zarte Denkmalsetzung der realen Jeanette Walls für ihren bei allen Verfehlungen geliebten Vater.

Es sind letztlich Einzelszenen, die gleichsam an die Nieren wie zu Herzen gehen und zeigen, wie viel mehr unter einer fokussierten, mutigeren Regie möglich gewesen wäre. Wie Rex seine Tochter Jeanette wiederholt ins Wasser wirft, um dem gequälten Kind auf fragwürdigste Weise das Schwimmen beizubringen, ist in seiner Radikalität schwer zu ertragen. Wie er ihr im Schnee liegend einen Stern vom Himmel schenkt schlicht wundervoll. Und wie sie im Kerzenschein zaghaft fleht, er möge doch bitte mit dem Trinken aufhören, während er als gebrochener Mann über den Plänen seines Traumhauses sinniert, rührt zu Tränen. Szenen, die in ihrer Unmittelbarkeit und Echtheit ohne Jungdarstellerin Ella Anderson nicht möglich gewesen wären, die eine beeindruckend natürliche Performance auf Augenhöhe mit dem gestandenen Mimen Harrelson liefert.

Doch am Ende überwiegt bei „Schloss aus Glas“ stets ein Gefühl der Sicherheit und Versöhnung, wird die Bitterkeit der Erzählung häufig mit humoristischen Elementen aufgelockert. Es sind diese Inkonsequenzen, die verhindern, dass das Werk als Charakterstudie wirklich greifbar wird – Und es mag Jeanette Walls‘ persönlicher Bindung geschuldet sein, dass ihr familiäres Gebilde nicht in seine Einzelteile seziert werden soll. Unter einem weniger analytischen Blick ist dies aber auch der wohl einzig mögliche Umgang mit ihrer Vergangenheit, einer Zeit aus Licht und Schatten, in Liebe und Frust. „Schloss aus Glas“ ist weder reines Drama noch akribische Biografie, es ist ein Konglomerat wertvoller Erinnerungen, die länger bleiben als Trauer und Wut. Und gerade in seiner inhaltlichen Unbestimmtheit und emotionalen Verklärung wiederum zutiefst aufrichtig.

Bewertung 3.5

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