Meine Güte, ging das schnell. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass auch nur einer der letzten 99 Texte unter 500 Worten ins Ziel gegangen wäre. Das ist schon Aufwand. Aber dann zu hören, dass sich mein Geschreibse doch immer noch flott und ohne unnötigen Leerlauf liest, bestärkt nur meine gemeine Induktiv-Folter. Muahaha!
Aber da ist sie also: Die 100! Das eine Ziel (neben 1 Jahr Blog, aber da sah es ja schon zwischendurch knapp aus, Stichwort gemeinfreie Bilder…), und was kömmt nün? Vielleicht nicht die Flucht nach vorn, sondern die bewusste Selbstverknappung. 1 Artikel die Woche, wenn es die Zeit denn überhaupt hergibt. Die Rubriken bleiben, denn alle haben Content und ihre Daseinsberechtigung. Nö, im Leipziger Westen nicht viel Neues…
Außer natürlich ein obligatorisches Dankeschön an alle, die hier hin und wieder oder sogar regelmäßig reinschauen. Ich würde wahrscheinlich ohnehin schreiben, aber so macht es doch viel mehr Spaß. Und immer mal wieder Feedback von Leuten zu bekommen, die man als „Kundschaft“ gar nicht auf dem Schirm hatte, ist natürlich die Kirsche auf dem Blogger-Becher. Vielen Dank dafür!
Text Nr. 100:
Vom Nichtstun und wie man es verlernt hat
„I make lists. All the time!“ – L. Neeson
Menschen brauchen Listen. Um sich und andere zu organisieren. Um den Überblick zu behalten über das ganze kleine und große ‚Machen müssen‘, welches Projektil-Sperrfeuer-gleich den Tagesrhythmus jedes und jeder Einzelnen mundgerecht querperforiert. Jeder macht Listen. Selbst Liam Neeson macht Listen. Deswegen hat ihn Steven Spielberg auch die Rolle des Oskar Schindler in „Schindlers Liste“ spielen lassen [sic!].
Eine brave Mensch-Maschine funktioniert nur durch Ordnung, über die leitende Hand in den wabernden Sümpfen trüber Chaostheorie. Aufgaben, Prozesse, Reglementierungen. Durchdekliniert von Wecker klingen bis Wecker neu programmieren, von Arbeitsplatz über Einkaufszettel bis Haushalt, Urlaubs-Checkliste und Sportverein. Namen, digitiert zu Nummern, digitiert zu Kurznotizen, eingereiht in die Anonymität trügerischer Übersichtlichkeit.
Das letzte Tabu
Immer dabei: Das Smartphone als Rundum-Organizer, Erinnerungsbomber und Lückenfüller, um sich vor dem einen großen, feist funkelnden Damoklesschwert des eigenen Untergangs zu schützen: Langeweile! Hagen Rether hat es schon vor Jahren auf den Punkt gebracht: „Es gibt keine Tabus mehr, aber wir haben panische Angst vor Langeweile.“
Etwas nonchalanter steht es im Parteibuch der Sozialdemokraten: „Wer nicht arbeitet, muss auch nicht essen!“ Hat mal der Müntefering gesagt, dabei aber auch nur vom ollen Paulus geklaut und der hat in der Bibel mitgespielt, also muss er wohl Ahnung haben. Die Botschaft: Ein rechtschaffenes Stück Mensch, was alle Menschsachen machen kann und darf, muss sich genau das erst verdienen: Durch Arbeit, Knechten, Leistung zeigen.
Morgens schon kraftvoll zubeißen können
Leistung! Der Beste sein. Immer noch ein bisschen mehr geben. Ein in Stein gemauertes Dogma, indoktriniert und angenommen, das den parallelweltlichen Sphären der Berufswelt längst entstiegen ist. Erster im Sport, mehr Freunde als alle anderen, Termine über Termine als Prestige förderndes In-Group-Kriterium. Always on. Und wer nicht schafft, wird abgehängt.
Und während wir noch über eine Selbstverständlichkeit debattieren, nämlich ob man Burnout als die Krankheit begreifen darf die sie ist, haben wir die Fähigkeit zum Nichtstun lange verloren. Die letzte ToDo-Liste abgeschrubbt, die Füße hochgelegt. Und dann, ganz wichtig: Kein Fernsehen, keine Xbox, kein Buch. Vielleicht noch Musik. …Und Tick Tack, kann man die Uhr danach stellen, wie man unruhig wird, sich langsam himmelschreiend unnütz fühlt.
Warten auf Godot oder der Prophet zum Berg
Nicht einmal das elendige Warten – worauf auch immer – können wir in Momente der Entschleunigung ummünzen, weil man im Sekundentakt den Uhrzeiger anstarrt, als wolle man ihn anfeuern oder zumindest nachhaltig auf die katastrophalen Folgen seines Handelns hinweisen. Fünfe grade geht eigentlich nur beim Auskatern, denn dann haben wir uns die Auszeit schließlich hart und ehrlich erkämpft. Nur sind Kopfschmerzen und Dehydrierung auch nicht gerade das, was der Onkel Doktor beim Entspannung verschreiben im Medizinersinn hatte.
Und will man dann immer noch einen drauf setzen, damit die flinken Malocherhände weiter fein rabotten können, findet man immer etwas Neues. Man will schließlich Schritt halten statt still stehen! Vielleicht will man die gesamte Creative Suite drauf haben, bevor man das im Büro ganz natürlich um die Löffel geworfen bekommt. Man will vielleicht noch häufiger joggen gehen, um sich bei bedeutungslosen Kleinwettbewerben mit einer Zahl X unbekannter Mit-Idioten um die Wette zu messen. Oder man will bei 36 Grad einen dem Tode geweihten Kräutergarten in mehreren Generationen am Leben erhalten. Und dann ständig noch auf Konzerte und Festivals tingeln, ins Kino, den Pub, Museen, Theater – und das ganze andere Zeug, was man verpasst, wenn man morgen umfällt. Und Umfallen ist bei dem Betriebstempo auch keine allzu ferne Vorstellung.
Der Wolf und die sieben Geißelungen
Oder noch besser: Man schustert sich in mühseliger Kleinarbeit einen Blog für ein paar interessierte Leser zusammen, während man sich selbst dazu zwingt, unbedingt zwei Artikel wöchentlich gestemmt zu kriegen, die dann auch noch qualitativ was reißen sollen. Ohne Ranklotzen landet man halt nicht bei 100 Texten in 11 Monaten und 700 Worten Schnitt. …Kann man sich dann stolz auf die eigene Schulter klopfen und den Sinn dahinter gleich wieder in Frage stellen.
Jetzt will man es – bei aller Liebe zu ausuferndem First-World-Gequengel – ja auch gar nicht anders haben. Um zeigen zu können, was man alles Tolles macht, wo man alles Tolles hingeht und was man ach so Tolles alles kann. Vielleicht aber auch, weniger zynisch, um sich selber zu verorten, zu definieren. Zu wissen wo man steht und was man mit seiner begrenzten Zeit anzufangen weiß. Nur liegt genau darin die Krux: Alles muss immerzu und im selben Atemzug passieren, weil wir meinen, die Uhr damit überlisten zu können. Als könnten wir so den Tag, an dem all das vorbei ist, was das eigene Leben lebenswert macht, in ungreifbare Ferne von uns schieben.
Die ganz eigene Doomsday Clock
Rether hatte recht mit dem Begriff ‚Panik‘! Es ist Angst, die antreibt. Die zittern lässt bei jeder unbeobachtet verstrichenen Minute. Produktiv sein heißt auch Bedeutungslosigkeiten Raum geben, also Zocken, Bingewatchen, Lets Plays suchten. Hauptsache wir nehmen ständig in uns auf, auf dass kein blinder Fleck tiefe Furchen in den Lebenslauf des Alltags kerben könne. Bei Lichte betrachtet vergeudet man jeden Tag mit sinnlosem Schrott: Job, Fitness, Internet. Alles nichts, was in der Endabrechnung zählen würde. Aber es ist wie beim Rausverkauf im Xenos: Der Schrott zählt – und im Dutzend billiger soll er bitte einem selbst gehören!
Was dabei auf der Strecke bleibt ist das Gespür für die schleichende Gewöhnung, das Abstumpfen, die Taubheit. Erst in den eigentlich so wichtigen Momenten der Leere könnte man den Blick schärfen für all das Konsumieren, das Vergeuden, das Seele baumeln. Es gibt nichts Negatives daran, einen omnipräsenten Status Quo wieder schätzen zu lernen. Der eigentliche Schmerz liegt doch in der Gewissheit, dass man zu der einfachsten Sache der Welt nicht mehr in der Lage ist: Nichtstun. Nichts machen und sich gut dabei fühlen, weil man weiß, dass es gerade das Richtige ist.
Unplugged
Naturgemäß kann es nichts Ausgleichenderes geben als Nichtstun. Das mit dem Schlafen hat ja schließlich auch seinen Grund. Nur, solange man der Meinung ist, auch so ein Nichtstun dürfe nur bewusst passieren, so lang wundern wir uns weiter über die eigene Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Stimmungsschwankungen. Die Batterien sind leer und zum Aufladen kennen wir nur Power Napping, Workouts und Anti-Augenring-Gesichtspaste.
Dabei könnte alles so einfach sein! …Isses aber nicht, würden Herbert und die Fanta 4 jetzt sagen. Doch, isses! – Sage ich! …Oder vielleicht doch nicht? Ich habe diesen Text geschrieben, im Flixbus nach Dresden, nach einer langen, Fegefeuer-heißen Woche. Weil ich Angst davor hatte, 1 ½ Stunden Busfahrt wären sonst zu dröge und sinnlos vergeudet. Der Text ist lang geworden, einfach weil ich Zeit hatte. Und jetzt wird er fertig, weil ich gleich aussteige. Mission accomplished! Ich bin jetzt schon gespannt, was die Rückfahrt übermorgen bringt. Ich könnte so langsam die nächsten 100 Blog-Texte planen, außer mir fällt etwas Wichtigeres ein. Nur was? Was um alles in der Welt? Ich sollte das eruieren. Energisch, proaktiv und unter vollem Einsatz meiner Kräfte. Glück auf!
Glückwunsch zur 100. (Und zum Geburtstag.) But don’t forget: Streß dich nicht so. Mach mal ne Pause. Du wirst ja auch nicht jünger… 😉
…aber besser 😉 Nee, ich fahr‘ schon zurück. Beim aktuellen Job bleibt eh wenig Zeit nebenher, da geht das Pensum nicht mehr. Wird ja irgendwann auch redundant 🙂
Ist redundant als Begriff nicht längst obsolet?
Hmmm… Dein quer geschossener Einwurf atmet für mich sehr den Pastiche des Anachronistischen. Aber Retro ist das neue Jetzt, nicht wahr!? (*würg*)