Home Sweet Home
Ein Tag im Mai. Einer der ersten milderen Tage des Jahres, was für den nicht enden wollenden Kälteklammergriff 2017 immer noch tendenziell arschkalt meint. Doch wir haben Legendäres vor: Wir, das ist neben meiner Wenigkeit der C., ein dem feucht-fröhlichen Absturz wenig abgeneigtes Apokalyptus-Bonbon, das einen besonderen Ort auserkoren hat, seinen nahenden Jahresringetag bei Musik und zünftigem Gelage amtlich unter den Tisch zu verkosten. Weiter der D., der sich der wilden Fahrt in naiv genügsamer Freimütigkeit angeschlossen hat. Und der P., ein vormaliger Kollege des C., nicht minder sattelfest bezüglich aller Arten verschieden viskoser Flüssigkeiten, die uns in den Folgestunden an die Leber wollen. Das Legendäre, nach dem uns der Sinn steht, ist ganz klassisch ein Konzert. Nicht irgendein Konzert: Ballad of Geraldine, der wohl spannendste Halle(Saale)-Export seit Return to Peeze, gibt sich die Ehre im Wolfener Jugendverein Roxy e.V., im „Roxy“.
Ich und der C., der C. und ich, sind Kinder Wolfen-Nords, jahrelange Beimieter dieser pittoresken Plattenbau-Idylle, die schon stabileren Leuten als uns den Spaß am Leben und die Hoffnung auf die Zukunft gekostet hat. Aber eben auch ein Schmelztiegel allerlei leicht und schwerer beschädigter Exemplare der ortsansässigen Jugend, für die der Roxy eine Zuflucht aus der umgreifenden Tristesse darstellte, ein Ort zum Feiern, Musik hören und machen, sich kreativ austoben, Streiten mit Vertretern aus regionaler und Landespolitik – ein Ort zum Schließen langlebiger Freundschaften, zum Sammeln von Erinnerungen, zum Wiedersehen, an diese Zeit zurück zu denken und gewahr zu werden, wie gut wir es trotz der widrigen Umstände in diesem unseren Domizil doch hatten. Ein Ort, aus der Taufe gehoben und am Leben gehalten durch das penetrant-unermüdliche Durchbeißen einer Person, unter die Arme gegriffen durch die Hilfe vieler anderer – Ein Ort, der einen eigenen Text verdient und bekommen wird, jetzt also nicht länger Thema sein soll. Hier geht es um die Leipziger Chaos-Kombo, die sich an diesem überraschend sonnigen Mai-Nachmittag am Hauptbahnhof versammelt hat, mit guter Laune, Bier und allerhand kunterbunter Kleinstalkoholika im Gepäck, auf dem Weg in die grau betonierte Satelliten-Hölle der ehemaligen Wolfener Filmfabrik. Immerhin, der Zug fährt und ist pünktlich. Noch…
Egon hat ‘nen Plan
Wir sind früh dran, bewegen uns unter steigendem Tüdelpegel durch das Häuserklops-Labyrinth, erkennen vieles wieder in Wolfen-Nord – Vieles andere freilich nicht mehr, was in den vergangenen Jahren der staatlich subventionierten Abbruchschere geopfert wurde. Für mich sind die Erinnerungen frisch, lange habe ich meiner Heimat noch nicht den Rücken gekehrt. Für den C. ist es schon ein weitaus andächtigerer Moment. Noch mehr für den D., der vor vielen weiteren Jahren hier auch seine Tage ein und aus gegangen ist. Der P. kennt die Stadt zwar nicht, kommt aber aus ganz ähnlichen Umständen – Wird mir später aber dennoch offenbaren, dass er einige der Bilder von hier nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Ein Kompliment? Wohl kaum!
Früh dran sind wir dann auch im Roxy selbst, was aber durchaus üblich ist. So ein Konzertbeginn in den heiligen Hallen dieses Clubs schiebt sich gerne immer weiter bis ins Ungewisse, nicht zu früh dran ist man oft nur, wenn man gerade noch die letzte Band abgreifen will, bei der die Kasse schon zu hat. Dann ist man meist pünktlich zur Vorband erschienen. Zeit genug für den C., mich rechtzeitig auf seine absehbare Unzurechnungsfähigkeit zu geschätzt 22 Uhr hinzuweisen, weshalb das Taxi zurück zur Abholstation unbedingt davor geordert werden muss. Ich soll ihn darauf hinweisen. Ich sage, ich mach‘ das. Mach‘ ich natürlich nicht, hab’s sofort wieder vergessen. Ist aber auch egal, die unfreundliche Taxi-Unternehmens-Quatschen-Tippse am anderen Ende der Postleitung ist der Meinung, so ein Gefährt könne nur eine Stunde vor avisierter Uhrzeit geordert werden. Der C. schaut, ob er sich nicht verwählt hat… Nein, ein Taxi-Dienst, der mit Kunden Termine zur gewünschten Fremdkutschierung vereinbaren und organisieren will. Surreal, aber seien wir ehrlich: Hier ist Provinz.
Plan A von C., die logistische Transportsicherung, scheitert also schon hier, Plan B geht dafür auf. Noch bevor Ballad of Geraldine die Bühne betreten, sind wir latent wackelig und nuschelig unterwegs, bei expressiver Heiterkeit. Dass der Soundmatsch nur semi begeistert ist geschenkt, die Band erschafft trotzdem ihre berüchtigte Atmosphäre aus vernebelter Southern-Comfort-Bar und garagiger Schrammel-Ästhetik. Und die Sängerin, also eine von beiden, zeigt wieder einmal spielend, was möglich gewesen wäre, hätten Hole damals ihre Pseudo-Punk-Attitüde im Schrank geparkt und mit rauchig-säuselnder Whiskey-Stimme ein bisschen mehr Sex auf den Tisch gebracht. Irgendwann freilich sind auch BoG durch mit ihrem Set, ein gemütliches Gespräch mit den Mädels im Anschluss verschafft mir später ihre signierte Debut-Platte nebst lieber Postkarte im Briefkasten, auch wenn ich fast drei Wochen warten muss. Den Kater werde ich übrigens „nur“ bis Dienstag haben, ist auch ‘ne Weltpremiere – und muss mit der allgemeinen Bier/Wodka/Pfeffi-Bar-Situation nach dem Auftritt zusammen hängen, es gibt ja schließlich noch was zu feiern und wir haben nahezu unstillbaren Durst. Nur ist das hier auch unwichtig – Ha! Reingefallen! – Hier ist nicht Hangover 4.0 – Und was soll man auch über Besäufnisse schreiben, was zu Recht in keinen Geschichtsbüchern steht!? Also – Schnitt!
Raus aus unserer Stadt, Greenhorn!
Kurz nach 2 Uhr, wir haben ein Taxi bekommen, wie auch immer wir das bewerkstelligt haben. Der Fahrer ist recht wortkarg, dabei sind wir so gut gelaunt – Entweder ein besonders eigenbrödlerisches Beispiel seiner Zunft, oder es geht einfach alles vor die Hunde. Bahnhof Wolfen, Auftritt Deutsche Bahn: 2:20 ist Abfahrt, 1 Stunde (EINE!) Verspätung verrät uns die Blinkertafel. Muss am Samstag-Nacht-Berufsverkehr liegen, aber was tun? … „Highlander!“, inbrünste ich Ein-Wort-Gewaltig. Eine Kneipe, nur die Straße hoch, bekannt für seine urige Gemütlichkeit und seine verschnatterte Bedienung. Wir eröffnen die Pforte, treten ein – irgendwann muss sich die gemütliche Bar zu einer zwielichtigen Elite-Western-Kneipe für harte Typen digitiert haben. Die Tische sind leer, dafür die Theke voll besetzt, das damalige Schnatterinchen regelt grimmig die Männer-Runde. Die Musik hört auf zu spielen (Okay, das nur dramaturgisch…), alle Gespräche verstummen, die Outlaws drehen sich auf den Punkt nach uns um, starren uns mit finsterer Miene an … Ich: „Könnten wir noch ein Bier haben, nur eins? Unser Zug…“ – „Wärt ihr mal ‘ne halbe Stunde eher gekommen!“ – „Höhöhö“ von rechts. „Wärt ihr mal zwei Stunden eher gekommen!“ – „HarHarHar“ von links. „Hier jibs nüscht mehr“ von Blondie hinterm Tresen.
Wir machen kehrt und verlassen geknickt das Etablissement, die Tür springt auf: „Wer hat hier gerade Schwanzlutscher gesagt???“ Ein Vollblut-Atzen durchmisst den Türrahmen, seine Adern pulsieren. Der D. ist ein paar Meter hinter uns zurück geblieben, er ist ohne Frage der Netteste von uns, aber Chuck Norris auf dem Absatz gibt keine Ruhe, will ihm an die Kehle. Ich hechte zurück, packe die Schulter von D. „Komm, lass labern, wir gehen!“. Zippy unter’m Highlander-Schild motzt und gestikuliert, lässt uns aber ziehen. Aber was jetzt? Alles ist geschlossen, die Bordsteinkanten seit Freitag Nachmittag in Parkstellung. Okay, dann lungern wir halt am Bahnhof rum wie ziel- und ideenlose Dorf-Teenies. Und schau, da sind mittlerweile sogar welche von denen. Wir fragen, ob sie noch Bier haben, alt genug aussehen tun sie jedenfalls und uns hat das früher auch nicht gejuckt. Hätte nicht gedacht, dass man schon in dem Alter Samstag Abend freiwillig auf dem Trockenen sitzen kann. Ich sag doch, vor die Hunde – Alles! P. fragt irgendwann, wie der Unentspannte vom Highlander auf die Idee mit dem „Schwanzlutscher“ überhaupt kommen konnte? „Ja, keine Ahnung, vielleicht war ich das“, sage ich.
RB-Fans die auf Nebelkrähen starren
Nahezu exakt die eine Stunde zu spät kommt tatsächlich die S-Bahn. Respekt für das Timing, DB! Aber egal, einfach rein da, das Rumstehen hat müde gemacht und die Frischesten sind wir ja alle nicht mehr. Gut, wir wissen es freilich schon, haben ja vorgeplant, aber wenn wir doch jetzt nicht noch in Bitterfeld umsteigen und in Leipzig-Messe in den Schienenersatzverkehr wechseln müssten! Zwei Mal raus aus den Kartoffeln für eine eigentlich halbstündige Direktverbindung – Habe ich mich heute schon bei unser aller liebstem Personenbeförderungsunternehmen bedankt? Nein? Na, da werden sich doch noch Gründe finden, die Nacht ist jung! Also Gleiswechsel in Bitterfeld, dem hilflosesten Kreisstadtversuch seit Erfindung der Ortsschilder, nicht lange fackeln, ab auf die Hartpolster und fertig. 5 Minuten vergehen bis … „ICH HAB GESAGT, NUR IN DEN ERSTEN WAGEN!“ Wir denken noch, Mucki-Joe von vorhin hat sich ‘ne Schaffner-Mütze auf die rote Rübe gesetzt, aber es ist tatsächlich ein Offizieller mit reichlich Ausgleichsbedarf. Diskutieren hilft freilich nicht viel bei diesem Atombömbchen in Uniform. Aber wir sind gerade eingestiegen, Mann! Woher sollen wir wissen, dass die hier den hinteren Zugteil abkoppeln? Ach, kack der Hund drauf. Zwei Waggons nach vorne, gleiches Prozedere, wir haben ja mittlerweile Übung.
Lauter ist es hier jetzt aber schon und mein Ethanol-beschlagenes Köpfchen meint, das könne mit der etwa 10-Mann-und-Frau-starken RB-Leipzig-Fan-Truppe zu tun haben, die es sich hier bequem gemacht hat. Aber alles im grünen Bereich, mit P. als echtem Kenner im Schlepptau weicht anfängliche Skepsis schnell kollektiver Glückseligkeit. Auswärtsspiel, Berlin, Hertha, Gewonnen! Läuft! Und ‘ne ganz anständige Meute ist das ja schon, die sich die Laune auch nicht hat verderben lassen, obwohl sie seit drei Stunden zu Hause sein könnte, dank der Deutschen Bahn auf ein mittlerweile fünf Stunden andauerndes Regionalzug-Fegefeuer angewachsen. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, dem Verein seinen gebührenden Dank auszusprechen? Ach Quatsch, es kann immer noch besser werden. Weitere 30 Minuten verharren wir an dem bildhübsch-fürchterlichen Bitterfelder Hauptbahnhof, ohne Durchsagen, ohne Infos, ohne Ziel. Eineinhalb Stunden ist meine 4-Mann-Gesellschaft jetzt schon hinten dran, den SEV in Leipzig-Messe habe ich längst abgeschrieben. Wobei, fragen kostet ja meist nichts. Außer vielleicht die eigene Würde: Ich fahre zwecks Beruf täglich diese Strecke, aber diesen antrabenden Nachtmahr-Hausdrachen einer S-Bahn-Kontrolleurin habe ich weder vorher noch seitdem wieder erblicken müssen. Ich setze diplomatisch an: „Ja, nach Bitterfeld hatten wir ja schon eine Stunde Verspätung, jetzt noch die halbe Stunde, und in Messe müssen wir ja…“ – „WIR SIND PÜNKTLICH!!!“ – Faucht das Monster von Loch Ness-Bahn und zieht schnaubend von dannen. Ich schaue den C. an, der schlummert, den P. und den D., dann die RB-Fans, die tun es uns gleich, wir sind merklich irritiert und eingeschüchtert.
4:30 Uhr nachts, Stadtrundfahrt, die Frisur hält – Die Contenance nicht
Natürlich war es Morticia Adams reichlich Wurst, was mit uns armen Teufeln passiert. Und so stehen wir also da, irgendwo im Nirgendwo der Leipziger Außenbezirke, ohne Busabholung, ohne Straßenbahn, ohne Bundesstraße. Ein Großraumtaxi wollen wir uns bestellen, allesamt, kann ja auch noch witzig werden, oder bis zur Delitzscher Straße nochmal 30 Minuten laufen und dort in die Tram. Kann jetzt nicht sein, denke ich mir, der Zug steht noch am Gleis, Cruella de Vil und ich sind noch nicht fertig. Ich stapfe bedenklich angefressen die Stufen hoch, gehe die Wagons ab, bald sehe ich den Wasserspeier. Ich zeige mit dem Finger auf sie, deute ihr, gefälligst zur Tür zu kommen. Und auf einmal ist Mussolini gar nicht mehr so großmäulig, grabbelt gar an ihrer Hüfte nach dem Pfefferspray – „Ich tue ihnen doch nix, verdammt noch mal“, rechtfertige ich mich. „Sie haben gesagt, wir sind pünktlich, jetzt stehen wir hier, kommen nicht weg!“ – „Dann nehmen sie eben die Straßenbahn!“ – „Es ist nach vier Uhr nachts, hier kommt nichts mehr!“ – „NakNakNak“ … Zwecklos, sage ich mir, trotte zurück zu freundlicheren Gesellen.
Gerade wollen wir uns auf die Reise begeben, da zirkelt ein besonders schäbiger Vertreter der Leipziger Verkehrsbetriebe heran, unübersehbar prangt auf seiner Anzeige „STADTRUNDFAHRT“. 4:30 Uhr nachts, ist klar! Und da steigen Leute aus, und die gehen zum Gleis. Wer sind diese Menschen, wo wollen die hin? Ich frage mich bis heute, ob die wirklich echt waren. Gerade als am Bus die Anzeige erlischt und dieser sich wieder auf den Heimweg begeben will, erkennt Ein RB-Mann geistesgegenwärtig die Lage, rennt und fleht, uns doch bitte mitzunehmen. Innen sitzt ein beleibter, gut gelaunter Fahrer vermutlich türkischer Abstammung: „Ihr Leipzisch-Fans? Isch nehm eusch mit!“ Das muss der gute Mann gewiss nicht zwei Mal verlauten, wir richten uns häuslich ein, die Fußball-Jünger versorgen uns mit Blubberwasser, geben ihre Chöre zum Besten. Da darf sogar der C. ungestraft erwachen und aus voller Kehle „Eisbären Berlin!!!“ anstimmen. Der deutlich zu hässlich geratene Sukkubus aus dem Zug ist mittlerweile sicher wieder in seiner Gruft verschwunden, nach endlosen 3 Stunden hat das Leipziger Zentrum unsere geschundenen Seelen wieder gebettet. Alle 4, wie wir da stehen, haben im Nachgang rumgefragt, wer irgendwann mal etwas von einer nächtlichen Besichtigungsrundfahrt mit Endstation Messegelände gehört hat – ohne Ausnahme erfolglos. Der D. wankt zu seinem Fahrrad, dampft aber recht sauber davon. Der C. und der P. wollen noch zu McD, ihren Heißhunger stillen. Ihre dortigen Erlebnisse rund um weitere grobschlächtige Breitkreuze und ihre Schicksen beim frühmorgendlichen Fast-Food-Dinner mitsamt liebevoll drapierter Rote-Rosen-Romantik stehen auf einem anderen Blatt. Ich für meinen Teil fahre zum Ostplatz, will dort die 60 nach Plagwitz nehmen, die viel zu früh dran ist. Ein kleiner Spaziergang kann nicht schaden, jetzt weiß ich auch, wo die Sternburg-Brauerei ist. Nur für den Fall. Aber heute – Heute ist der Spaß voll!
Ja, Mensch. Du hattest anscheinend Spaß. 😉 Aber was tut man nicht alles, um die phänomenal großartigen Ballad of Geraldine zu hören.
Naja, zwischen 2 und 5 Uhr morgens war der Spaß dann relativ voll 😉