Zola Jesus – Okovi (Review/Musik)

Die Review zu „Zola Jesus – Okovi“ ist Teil der Reihe „Les nouvelles Grandes Dames schwermütiger Rock-Musik“.

Zola Jesus - Okovi

Industrial / Electronica / Dark Pop / Neo-Klassik

08.09.2017 -- Sacred Bones -- 39:58 min

Nach Hause gekommen

Alles auf Anfang. Die Reißleine ziehen. Die Großstadt hinter sich lassen. Das Gefühl, in der Anonymität zu ertrinken und das Band zur eigenen Musik zu verlieren, endlich abschütteln. Als Nika Roza Danilova, die kleine Frau mit der großen Stimme, Seattle den Rücken kehrt, um in der Abgeschiedenheit der Wälder ihrer Heimat Merrill, Wisconsin, zu sich zu finden, trägt sie eine erdrückende Last auf ihren Schultern. Seit jeher ein Kind von Traurigkeit und in ihren Kompositionen als Zola Jesus die Grenzen aus Tod, Trauer und Verzweiflung auslotend, droht sie, an der Schwere ihrer eigenen Depression zu zerbrechen. Schicksalsschläge in ihrem engsten Vertrautenkreis – eine Diagnose von Krebs im Endstadium und der zweifache versuchte Suizid eines guten Freundes – wiegen bleiern auf der mit einer Schreibblockade hadernden Musikerin. Es ist erstaunlich, wie Danilova aus dieser lähmenden Situation die Energie für ihr fünftes Studioalbum aufbringen konnte. Umso beeindruckender, wie mutig sie mit „Okovi“ ihren Ängsten gegenüber tritt und zu ungeahntem Selbstbewusstsein erwächst.

Vorbei sind die Zeiten, in denen Zola Jesus mit „Taiga“ den Pop für sich vereinnahmen wollte. Vorbei auch die Zeiten, in denen sie hinter einem streng orchestralen Konzept zurück stand und sich in abstrakter Unbestimmtheit übte. „Okovi“ ist ein intimer Befreiungsschlag, der die Grenzen zwischen Figur und Mensch auflöst. So emotional wie nötig und so ehrlich wie möglich. Natürlich weiß Danilova um ihr bisheriges Schaffen. Wie sie die moderne Offenheit von „Taiga“ und die strikte Sakralität von „Conatus“ mit dem atmosphärischen Industrial-Faden ihres Frühwerks „Stridulum“ kunstvoll verwebt, ist für sich genommen schon eine besondere Zäsur in ihrer Diskografie. Aber „Okovi“ ist mehr: Selten waren die Entstehung eines Albums und dessen Texte enger umschlungen, „Okovi“ erzählt eine Geschichte – die Geschichte seiner eigenen Entwicklung und die seiner Künstlerin. Erzählt von dem Konflikt mit persönlichen Schwächen, der helfenden Hand gegenüber Anderen, Sinn und Sinnlosigkeit von Leben und Handeln angesichts unausweichlicher Endlichkeit – und der Akzeptanz dessen als Weg zu Ruhe und Katharsis. „Okovi“ ist slawisch und bedeutet „Fesseln“. Fesseln, die auch Bindungen sind, ein Yin und Yang aus Bürde und Verantwortung. Die Einsicht in das eigene Dasein als eine Reihe von Prüfungen, an denen man scheitern und dennoch gestärkt hervorgehen kann.

„Doma“, russisch für „Zuhause“, eröffnet „Okovi“ ätherisch-verhallt, während eine schwebende Zola Jesus die Suche nach ihren Wurzeln beschreibt, um sich ihren inneren Dämonen zu stellen. „Please take me home. Where I can be one. With the same land I’m from“. Das folgende „Exhumed“ ist dann nicht weniger als eine Kampfansage: „Don’t let it hold you down. Let it sink. In the static you are reborn“. Es ist ihr bis dato aggressivster Song, mit wild flirrenden Drum Patterns, trappigen Hi-Hats, sägendem Basslauf und gehetzten Stakkato-Streichern. Über allem thront die Opern-erprobte Stimme der Sängerin, die ungeachtet ihrer klassischen Herkunft auch immer eine soulig-umschwärmende Aura ausstrahlt. „Soak“ ergibt sich rhythmisch-finsterer Langsamkeit, während Danilova in einer fiktiven Erzählung „Where the wild roses grow“ weiter denkt, sich das Opfer angesichts des nahenden Todes aufbäumt und selbstbestimmt die letzte Reise antritt. Die Faust geballt, all das besiegen, was einen ins Dunkel treiben will – wenn auch die Zweifel und die Furcht bleiben, getrennt zu stehen von Körper und Bewusstsein, wie das zaghaft perkussive und von Streichern getragene „Ash to bone“ im Anschluss bekennt.

„For so long I felt myself falling backwards into a thick fog, with everyone I love on the other side. Meanwhile, I’m floating in this netherworld, with only a faint comprehension of reality that was distorted, muffled, and far away.” – Nika Roza Danilova

Zola Jesus Wien 2011

Doch es gibt Momente, in denen der Teufelskreis eigener Zwänge durchbrochen werden muss, will man den schützenden Arm um seine Liebsten legen, wenn auch nur artikuliert über die Musik. Das schmerzhaft-schöne und von jedem falschen Kitsch freie „Witness“ braucht lediglich Cello und Violine, um zu Tränen zu rühren. „You’re a rare kind. If you could see from the outside. To be a witness. To those deep, deep wounds“. Es ist ein Bemühen, sich dem Selbstmord-Versuch des Freundes zu nähern, ihm mittels eigener Erfahrung zu verstehen geben, dass es eine Welt fern des Abgrunds gibt. Dass die Dinge klarer werden, betrachtet man sich von außen. Als sich dieser erneut das Leben nehmen will schreibt Danilova „Siphon“. In düster-poppiger Ästhetik, dessen wuchtiger Beat stellenweise an den Bombast von HAIM erinnert, wird sie direkter, offensiver, will ihn mit aller Macht aus seiner Apathie zerren: „Cause we’d rather clean the blood of a living man. We’d hate to see you give into those cold, dark nights inside your head“.

Nur, was bleibt als Lohn für all das Kämpfen und Geben? „Who will find you when all you are is dust?“. Welchen Wert haben Kunst und Worte, wenn zuletzt doch nichts ist außer Vergänglichkeit? Der grimmige Ambient-Einstieg in „Veka“ mit seinen verschlungenen Rewind-Vocals droht an dieser Diskrepanz zu zerbrechen, gibt sich dennoch nicht geschlagen, sondern erhebt sich in unterkühlt-technoider Elektronik. Alles nur damit „Wiseblood“ der Person Zola Jesus den Spiegel vorhalten kann, ihre zahlreichen und kurz vergessenen Wunden aufreißen lässt: „If it doesn’t make you wiser. Doesn’t make you stronger. Doesn’t make you live a little bit. What are you doing?“ Doch Danilova ist schon weiter gegangen, braucht ihr Abbild nicht, jagt nicht mehr nach den verlorenen Puzzleteilen, um das Porträt eines unerreichbaren, vollkommenen Glücks zusammen zu setzen. Das krönende „Remains“ zieht mit Nachdruck auf die Tanzfläche, erstrahlt als Phönix aus der Asche – Weil es erkennt, dass nicht alles einen Gegenwert haben muss, nicht jede Frage eine Antwort verlangt, vielmehr gerade diese Ungewissheit das Sein bestimmt. „Do ruins give power? Or do they give proof? That something meant more than what we lived through?“

„Okovi“ ist Nika Roza Danilovas ureigene Reise ihrer Selbstfindung. Ein Kraftakt, an dem sie ihr Publikum ungeschützt und verletzlich teilhaben lässt, derart intim und aufrichtig war Zola Jesus nie zuvor. Und es zeigt eine gewachsene Songwriterin, die nicht mehr nur das Ende zu ergründen sucht, sondern Existenz in all seinen niederschmetternden und hoffnungsvollen Facetten begreift. Die glasklare und druckvolle, aber nie überfordernde Produktion tut ihr Übriges, um in die zupackende Welt von „Okovi“ einzutauchen. Dass Zola Jesus mit ihrem immensen gesanglichen Talent nach wie vor zu mehr Zwischentönen fähig wäre, dass manchem Stück ein wenig Experiment nicht geschadet hätte – All das sind erkaltete Tropfen auf einem großartigen Werk, welches den Hörer greift, entführt und nicht mehr loslässt. Den perfekten Ausklang des Albums bildet das fünfminütige Instrumental „Half Life“ – Da sind sie wieder, die sanften Streicher, das verschleppte Schlagzeug, der schmeichelnde Hall, Danilovas entrückter Choral, der keine Worte braucht, um melancholisch zu versöhnen. Und doch kann sie selbst es am besten beschreiben:

„I wrote this song at a cabin, stranded with my thoughts, stuck in limbo, while those around me were caught in their own purgatory. To straddle life and death, happiness and sadness, to become a prisoner of your own mind. Is there any escape? There is hope in finding euphoria in our darkest moments. Because when you close your eyes, the darkness is so black that it eventually becomes white. And as pain digs deeper, it pierces into pleasure. That’s transcendence. That’s the essence of being alive.” – Nika Roza Danilova

  1. Doma
  2. Exhumed
  3. Soak
  4. Ash To Bone
  5. Witness
  6. Siphon
  7. Veka
  8. Wiseblood
  9. NMO
  10. Remains
  11. Half Life

Highlights:

  • Exhumed
  • Witness
  • Siphon
  • Veka
  • Remains
  • Half Life
Bewertungssystem

Zola Jesus - Exhumed (Official Music Video)

Zola Jesus - Siphon (Official Music Video)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert