Der Schreibtisch 10/2017 – Vogel frisst Baby

Die zehnte Kolumne. Ja meine Herr- und Frauschaften! Der angeblich so exorbitant wichtigen Jubiläums-Nummer und dem damit einher gehenden gesellschaftlichen Konsens gerecht werdend muss die 10te natürlich besonders sein. Jetzt wurde die „10 beste…“-Geschichte die letzten Wochen ja bereits zum Bersten überreizt, also warum nicht einfach das machen, was sich die Kolumne seit gut zwei Monaten wünscht, nämlich: Kürzer werden!

Nur was tun? Die Bahn hat sich in den vergangenen Tagen wieder von ihrer schlimmst-besten Seite gezeigt, eine Runde Auskotzen zum Mitnehmen ginge also locker und ohne Nachhilfe aus der Hüfte geschüttelt. Ist aber auch langweilig und wenig geschmackvoll. Unspannender allemal als eine adipöse Überfrachtladung Brightoner Dark Cabarets, mit der vergangenen Freitag niemand ernsthaft rechnen konnte, insbesondere nicht der werte Mister Schreibmensch hier. Nur kommt unverhofft bekanntlich grundsätzlich, wenn auch selten. Und ich sage „Hallo“!

Amanda-Palmer-ludium

Dresden Dolls

Hallo, Amanda! …Okay, etwas weiter ausholen muss ich vielleicht. Aber es gibt Abende, die vergisst man nicht. Niemals! Abende wie den ersten November vergangenen Jahres. Amanda Palmer war freilich schon länger ein Begriff, woher auch immer. Aber einmal gesehen, gehört, erlebt, bekommt man dieses burlesque-extravagante Apokalyptus-Zäpfchen einer Vollblut-Entertainerin nicht mehr aus dem Gedächtnis gebannt. Schräg, exaltiert, verschroben, Respekt einflößend – und in höchstem Maße liebenswert, wenn sie binnen Sekundenbruchteilen an jenem Abend die Distanz zwischen Bühne und Publikum des Huxleys vollends pulverisiert. Drei Stunden in Form gegossener Cabaret-Wahnsinn, mit fettleibigen Ballett-Bunnys, tasmanischen Vaginal-Vergleichen, Heintje-Ukulele-Medleys und viel trockenem Roten. „An evening with Amanda Palmer“, absurd, witzig, Kräfte zehrend. Etwas, das sich kaum standesgemäß wiederholen lässt.

Eulenballaden

Ganz sicher nicht replizierbar durch einen kurzfristig über’s Knie gebrochenen Konzert-Besuch innerhalb der betoniert-verbunkerten Semi-Gemütlichkeit des Halleschen Hühnermanhattans. Schade eigentlich, die ursprüngliche Location des Venues war entspannt-rustikal, aber es geht wohl alles vor die Hunde. Zum Glück zählt letztlich der Inhalt, und der kommt gemeinhin schleichend, aber umso gewaltiger, Egon! „She Owl“ durften schon auf der Peißnitz letzten Sommer bewundert werden. Abgesehen davon, dass der Gitarrist aussieht wie der große Häuptling meiner Arbeitsstätte, kann ich bis heute nicht in Worte fassen, was genau dieses experimentell-tribaleske Dream-Pop-Duo aus Italien (mittlerweile San Francisco) so faszinierend macht. Vielleicht ist es einfach ihr samtweiches Timbre, welches einen direkt in das nächstbeste Lagerfeuer oder wahlweise die Schwarze Messe befördert. Letztlich aber auch egal, gefeiert wurde schließlich der Release ihrer neuen EP.

Gefeiert haben auch „Ballad of Geraldine“, Halles momentan alternativlosester Musik-Export. Die Verbindung aus schummriger Southern-Comfort-Lounge und dreckiger Glam-Punk-Attitüde haben die Jungs und Mädels ja seit jeher auf Kette gekriegt, aber heute sind sie mit neuen Songs hier, die ja mal so richtig amtlich nach vorne rotzen. Kompakt-knackige Zweieinhalb-Minüter ohne Rücksicht auf Invaliden und Veteranen, und natürlich diese verraucht-unwiderstehliche Stimme. Mein geschätzt sechster Live-Besuch, aber immer wieder eine Reise wert.

Vogel frisst Baby

Mishkin Fitzgerald

Birdeatsbaby, Mishkin FitzgeraldCC BY-SA 3.0

Mittlerweile haben ausreichend Astra-Konsum ihr Übriges getan, man will ja aber auch nicht auf Wicküler-Tristesse zurückgreifen müssen. An der Hopfen-Grundversorgung muss das Hühnermanhattan definitiv schrauben, wir sind doch keine Höhlenmenschen, höchstens Tiere. Womit wir bei Babys fressenden Raubvögelchen wären, welche den 2 Uhr nachts mittlerweile personell eher unterbesetzten Club in ein perma-kondensierendes Hexenkessel-Inferno verwandeln werden. Dass Rock keine Gitarre braucht, wussten schon „Death from Above 1979“, aber „Birdeatsbaby“ würden auch Acapella jede Festungsmauer in ihre Ionenmasse zerhäckseln. Jetzt hat die Band aber neben einer orange-haarigen, rundum tätowierten Undercut-Furie an Mikrofon, Keyboard und Akkordeon auch noch ganz typisch Drums und Bass, weniger typisch E-Bass und nicht zuletzt eine nicht minder wahnwitzige Violinistin am Start. Schließlich muss sich ja möglichst amtlich durch Pop, Punk, Metal, Glam, Klassik und aller der Weimarer Republik bekannten Klang-Kosmopolität berserkert werden können.

Ja, Dark Cabaret nennen sie ihre wilde Fahrt. Und ja, sie sind ganz nah dran an Amanda Palmer, auch wenn die nur sich und ihr Klavier für einen ähnlich Arsch tretenden Effekt braucht. Wirklich erklären kann man aber weder Amanda noch Birdeatsbaby, selbst erfahren ist Grundvoraussetzung. Genauso wie Kopf schütteln, breit grinsen und fassungslos starren. Und wenn Frontsau Mishkin Fitzgerald schon in der Lage ist, die komplette Stimm-Klaviatur rauf und runter zu wüten, fauchen, säuseln, schreien, zur großen Operetten-Geste auszuholen – Ja, dann dürfen Birdeatsbaby auch Maynard James Keenan zitieren und völlig legitim Tools „Sober“ covern. Und Muse. Und mit Trent Reznors „The Hand that feeds“ den Müll rausbringen. Danach konnte auch wirklich nichts mehr kommen  außer der Gewissheit, dass Forrest Gumps Pralinenschachtel noch lange nicht leer ist. Und dass eine Arbeitswoche auch noch so lang und anstrengend sein kann – Zu einem Freitag darf pure Couch niemals siegen.

Birdeatsbaby - Deathbed Confession (Official Music Video)

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