Wider den Winter – Eine Polemik

Winter. Stille. Nichts regt sich. Ein zarter, bittersüßer Hauch voll karger Schönheit umspült die Gedanken der Leute vor ihren Kaminen und in ihren Gemächern. Der bleiche Fieberwahn eines edelweißen Federkleids, das anmutig Burgzinnen und Schindeldächer bettet. Gelassenheit. Glückseligkeit. Strahlende Kinderaugen umtänzeln lächelnde Schnee-Avatare mit Möhren-Nase und keckem Zylinder. Eltern bestaunen selbstzufrieden das Schauspiel der Sprösslinge. Flanieren durch die stumme Erhabenheit einer unwirklichen Wirklichkeit. Küssen die Hektik des Tages aus der Ferne. Die Welt ruht, eingelullt von der Mystik des Augenblicks. Die Menschen sind zufrieden…

Winter

…und dann fliegen sie auf die Fresse. Stranden an Provinz-Bahnhöfen vergangener Gezeiten, verkeilen ihre Boliden ineinander, sichern sich die verdiente Lungenentzündung. Rutschen von einer kleinen Katastrophe in die nächste, dass es auch der Schwächsten unter den Nebelkerzen gehörig dämmern müsste: Winter ist beschissen! Winter ist kein Geschenk. Er ist die Antithese zu allem Guten, die Negation von Leben. Winter sagt: „Schaut her, aus jeder meiner Poren trieft der Tod der Natur. Und in einem Wimpernschlag kann ich auch der Eure sein!“. Denn Winter ist kein guter Freund, nicht einmal ein leiser Bekannter – Winter ist ein Arschloch!

Eine Jede und ein Jeder sollte es längst und ohne Anstrengung im Oberstübchen geordnet und auf Schneekette gespannt kriegen. …Aber sie tun es nicht. Wie Junkies an der Nadel klammern sie sich an die verzerrte Vorstellung eines weichen Winter-Wunderlandes, das nur Gemächlichkeit und Entspannung kennt. Nachvollziehbar ist es ja: Winter steht allein optisch für die Umkehrung des tristen, routinierten Alltags, weckt Sehnsüchte und Hoffnung auf Veränderung. Und Winter ist Synonym für Entschleunigung. Ein Zustand, in dem nichts mehr nach Effizienz schaltet, in dem das Paradigma des Immer-Funktionierens auf magische Weise abgestreift werden kann.

Doch am Ende des Traums entpuppt sich der wohlige Zauber als das Trugbild, das es ist – als die bitteren Nachwehen einer aschfahlen Theorie. Da sitzt man dann eben nicht wochenlang im Kreis der Empfänglichkeit zwischen Blätterkrokant und Räuchermännchen. Sondern schiebt seinen gestressten Allerunwertesten weiterhin auf Arbeit und in die Tram und durch den Discounter und zum Onkel Doktor, weil das Auto-Immunsystem vor lauter Freudensprüngen das gesund bleiben vergessen hat. Und da hat eben auch niemand Verständnis für terminliche Unpässlichkeiten wegen verkeilten Schneeflocken im Türrahmen, sondern da hetzt man genau wie sonst auch immer. Nur eben noch beschwerlicher und gestresster, weil die Kälte unerbittlich durch die Glieder fährt und das Verhindern hauseigener Schwerstfrakturen zur lebensverneinenden Mammutaufgabe digitiert.

Winter

Und der Schnee selbst? Dieser ach so tolle Schnee!? Die erbarmungslose Verteidigungs-Phalanx der winterlichen Höllenbrut!? Die ist kosmisch gesehen für etwa zwei Sekunden toll. Eine Sekunde für den Moment des Niederschwebens, wenn all die gebannten Lemminge begreifen, dass fallende Dinge auch liegen bleiben können. Und eine Sekunde für das tatsächliche Darniederliegen, weil auf einmal alles zwischen Straßen, Dächern und Baumresten eine andere Farbe hat als zuvor. Das ultimative Fest der Sinnlichkeit für all jene, die gefrorenes Wasser wahnsinnig spektakulär finden… Bis sie irgendwann dann doch wieder aus dem Haus müssen und anfangen, das „beeindruckt ergriffen sein“ umständlich vorzutäuschen.

Denn wie jedes Pulver, das irgendwann aufgelöst, zum Teig verknetet oder durch die Nüstern gezogen wird, bleibt das so präsentierte H2O ja nicht an seiner derzeitigen Konsistenz kleben, sondern kennt nur zwei verschiedene Ausschläge auf der Scheiße-Skala: Matsch und Glatteis! Und vor lauter Dreck, Schürfwunden und Knochenbrüchen weiß das Spaß-Barometer bald gar nicht mehr, wo es sich zuerst hin verkriechen soll. Wer das allen Ernstes noch gut findet, der stürzt auch Präsidenten und schwärzt die Nachbarn wegen vergessener Hausordnung beim Lehnsherren an. Und wenn alles nichts hilft, wird eben die Helen-Lovejoy-Karte gespielt: „Denk doch auch mal einer an die Kinder!“ Aber die finden das auch nur unterhaltsam, weil Überlebensinstinkt noch nicht zum formgestanzten Grundrepertoire gehört. Und die Arztrechnung löhnen ja auch nur wieder die überforderten Aufsichtspersonen.

Dem Winter kann das alles herzlich egal sein, weil er gleich einer alternden Torschluss-Diva längs und quer um die eigene Bedeutsamkeit kreist. Wie eine mittelmäßige Band, die irgendwann ein paar nostalgisch verklärte Hits hatte und seitdem mit ihrer zweifelhaft erkauften Reputation hausieren geht. Vielleicht ist es an der Zeit, dem Winter genau die Ablehnung entgegen zu halten, die er verdient. Denkt an Park, Sonne, Baden gehen, T-Shirts, Radfahren, Musik. Bis spät in die Nacht im Innenhof des Lieblings-Pubs bei ein paar frisch Gehopften sitzen. Wir sind nicht anonym, doch wir sind viele! Löst euch von den falschen Propheten eines weißen Weihnachts-Ideals, die doch nur mit der gespaltenen Zunge der Enttäuschung sprechen. Schmeißt sie an, die Generatoren! Reißt Löcher ins Ozon! Vertreibt den Winter, diesen hundsmiserablen Scharlatan, seine Tage sind gezählt. Erderwärmung: 1! Winter: 0!

2 Gedanken zu „Wider den Winter – Eine Polemik“

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