Ich packe meinen Rucksack und nehme mit: …Nichts! Den Hausschlüssel vielleicht. Selbst die laueste Sommernacht kann irgendwann unangenehm perlig ums Gebimse werden. Und wenn der Abend so läuft, wie ich denke, dass er läuft und ich am Ende so aussehe, wie ich glaube, dass ich aussehe, dann möchte ich nicht Gefahr laufen, zu christloser Geisterstunde die heimische Glocke zu schellen. Ich befinde mich in einem Lebensabschnittsstadium, in dem ich mich mit familiären Disziplinarzwängen wie mütterlichen Standpauken und Füßen, die man unter irgendwelche Tische stellt, noch ernsthaft beschäftigen muss. Außerdem ist Wochenende – und dass will man sich ebenso wenig unnötig beschweren wie den eingangs erwähnten Rucksack, der…
…Da muss ich kurz den Duden konsultieren:
[Rucksack], der: „Sackartiger Behälter mit zwei daran befestigten breiteren Riemen, der auf dem Rücken getragen wird“.
Was der Duden an dieser Stelle verschweigt, ist die Frage, ob mit „sackartiger Behälter“ nicht doch eher der Testpilot vor dem Umschnallapparat gemeint ist, der gerade Pummelfee-gleich in Richtung seiner gesundheitlich diskussionswürdigen Abendbeschäftigung rund um Musik, Bier und Unterricht vergessen aufbricht. Auch bleibt unerwähnt, wie viel Fassungsvermögen ein Rucksack eigentlich darf, ganz ohne Waffenschein und Zentrifugentest.
So ein Rucksack hat schließlich was vor. Man ist 16 oder irgendwas dazwischen, kann also Dinge heben, ohne Hexenschuss und Ischias schreiben lernen zu müssen. Überhaupt existiert man vergleichsweise unbefangen vor sich hin, hat höchstens das Jammern schon gelernt und behauptet alle Nase lang, dass als Kind ja viel mehr Freizeit war, weil man nicht die geringste Ahnung hat, wovon man da eigentlich redet. Aber erwachsen will man sein: Zumindest insoweit erwachsen, frohgemut eine Erwachsenenration Hopfenlimonade zu schultern, um die Belastbarkeit der eigenen Geschmacksgrenzen und die des rückseitigen Begleiters mit den beiden Behelfsträgern nachhaltig zu hinterfragen. Rucksack bedeutete bei mir etwas, das entfernt nach Armee aussah, aber nicht ansatzweise Armee war, sondern ein zartes Baumwoll-Pflänzchen, welches sich bei der geringsten Anstrengung in seine molekularen Bestandteile dividierte. Und Slipknot stand drauf. Die Kirsche auf dem Eisbecher eines langhaarigen Bombenleger-Trauerspiels, dessen Signature Move bald darin bestand, den Rückenkasten halbtorsal mit Sterni in der einen und Goldini in der anderen Flosse in pittoresker Eleganz durch die Pforten dieses ehrwürdigen Gemäuers zu chauffieren.
Nur, wozu falscher Stolz, wenn man doch zu Hause ist? Eine zweite Heimat, die wenig fordert und gibt anstatt nimmt. Eine Konstante in den Wirren der Adoleszenz und anderer hochtrabender Erklärungsversuche für einen Haufen Teilzeit-Beschädigter, die zwischen Beton-Ödnis und Zukunftssorgen einen Rückzugsort gesucht haben, um möglichst nah bei sich und den anderen zu sein. Und es war auch so schön einfach: Schule ist aus, es ist Freitag Nachmittag, und im Roxy ist Rock-Café. Am Klanggerät meist durch den Abend begleitet von einem Spät-Pünker-Lulatsch, der eigentlich nur Grunge und Indie kann und bei dem klar war, dass er als Quasi-Inventar immer drüben in der Wittener Straße stecken bleiben wird. …Und der seit vielen Jahren doch ganz woanders steht, zwischen InDesign, Fotografie und Kinderbücher schreiben. Überhaupt ist es erstaunlich, welch weite Wege viele der alten Garde mittlerweile gegangen sind, während zwischen Bier-Pong, Niveau-Limbo und Eurodance-Polonaisen ernsthaft bezweifelt werden konnte, dass diese Meute überhaupt zu irgendwas lebensfähig ist.
Aber woher sollte man auch ahnen, was der nächste Tag bringt? Wobei „nächster Tag“ in diesem Fall ja Samstag und damit Konzert meint, meistens zumindest. Und Konzert bedeutete auch mal Hip Hop. Als man sich durch die vernebelte Restluft zur Bühne durchschneiden musste, wenn nach dem Einlass überhaupt ein Durchkommen war. Und es bedeutete Rock und Metal, ein stetes und trügerisch gewohntes Kennenlernen kleiner und größerer Perlen zwischen Klampfenträgern, Beckentrommlern und Frontröhren, zwischen Fingerspitzengefühl und Breitbeinigkeit. Trügerisch deshalb, weil der Roxy etwas geschafft hat, was für eine absteigende Region wie diese geradezu unmöglich scheint: Menschen zu Pilgern zu machen. Musiker und Fans aus allen Ecken der Republik ins plattenbauliche Herz des Nirgendwos zu locken. Jungen Talentierten die Möglichkeit zu geben, ihre Finger wund zu üben, bis es sie über die Grenzen des Landes quer durch Europa treibt. Wagenkolonnen zu bilden und mit der versammelten Mannschaft in Köthen aufzuschlagen, um für etwas einzustehen, das allen so sehr am Herzen lag. Der Schutz eines Refugiums, das einem das Gefühl vermittelte, Teil von etwas Wichtigem zu sein, während draußen Rückbau, Tristesse und Vergessen ihre dunklen Schleier zogen.
Für mich ist der Roxy eine Zeit des Suchens und sehr schnell Findens, nachdem ich mit meiner prä-pubertären Schnittmenge aus Coolio, den Ärzten und Captain Jack nicht sonderlich viel anzufangen wusste. Ich habe gelernt, was Gitarren alles können, ohne dabei böse zu sein. Und was sie alles Böses können, ohne von bösen Menschen gemacht zu werden. Ich verbinde den Roxy mit einer Zeit, als ich nicht verstehen konnte, warum irgendwer freiwillig Tool hören sollte. Eine Zeit, zu der Toxicity das schönste handgemachte Präsent war, das man sich wünschen durfte. Zu der Limp Bizkit noch nicht die Liste der meist gesuchten Musikverbrecher anführten. Und als für diejenigen, die die Deftones in dieselbe Ecke geschoben hatten, ohnehin jede Hilfe zu spät kam.
Das Roxy-Mobil, die Workshops, all die intensive Kinder- und Jugendarbeit – Allesamt Dinge, die mir zumeist aus zweiter Hand am leicht zu befriedigenden Gemüt vorbei geschrammt sind und über die Leute sprechen sollen, die ohnehin viel mehr Ahnung haben als ich. Doch wie es mit den schönen, glorreichen Zeiten eben ist, spricht man von ihnen irgendwann in der Vergangenheit. Und es dauert, bis dieses Vergangene nicht mehr schmerzt, weil es vergangen ist. Aber irgendwann erwächst aus dem Vermissen Stolz. Stolz darüber, eine Zeit lang einen Weg von etwas Großartigem mitgegangen zu sein, das man vielleicht ein wenig zu oft für selbstverständlich erachtet hat.
Denn dass wir heute immer noch hier sitzen, uns unterhalten, Bier trinken und nachher zufrieden und etwas wehmütig nach Hause aufbrechen, daran ist nicht das Geringste selbstverständlich. Unter all denen, die hier über die Jahre ein und aus gewandert sind, die man mögen gelernt hat, respektiert oder ins Herz geschlossen hat – Unter all denen gibt es einen, für den tiefe Bewunderung nicht genügen kann. Wobei, eigentlich zwei: Denn Elke ist sicher die beste gute Seele des Roxys, die es mit einem renitenten Kindskopf und Träumer an ihrer Seite wohl oft alles andere als einfach hat. Doch jeder Stein dieses Zuhauses atmet letztlich den Tatendrang und die unbändige Leidenschaft von Roland Hentschel. Don Quijote gegen die Mühlen der Bürokratie und Jäger des verlorenen Ideals. Roland, du bist eine der wichtigsten Personen dieser Stadt und dieser Region und hast uns etwas geschenkt, das wir dir zu Lebzeiten nicht zurückgeben können.
Doch damit kann …und darf… es dann auch gut sein. Kettcar würden zwar dagegen halten, wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheiß-Musik auch nicht besser. Aber niemand zwingt den Roxy, den Weg von Guns’n’Roses zu gehen. Dann doch lieber den Weg von R.E.M. Die gab es solange wie es den Roxy jetzt gibt. Und die hatten am Ende ihres Pfades auch das eine Ausrufezeichen, das große Aufbäumen. „Collapse into now“ hieß das. Lass den Roxy nicht ruhen, Roland. Lass ihn kollabieren. Lass den Neubau einstürzen, mit all seinen schweren Geschichten und Anekdoten, seinem Schweiß, seiner Hoffnung und seiner Wut. Die letzten drei Jahrzehnte waren richtig. Und sie werden immer Bedeutung haben. Mehr, als es eine leise Erinnerung je könnte. Danke, Roland!