Teenage Angst und die große Leere – Gedanken zu Life Is Strange und Before The Storm (1/2)

Warnung: Der folgende Text enthält teils massive Spoiler zu Life Is Strange und zu seinem Prequel Before The Storm

Teenage Angst und die große Leere – Gedanken zu Life Is Strange und Before The Storm (1/2)

Wie gelähmt halte ich den Controller an zitternden Seidenfäden und starre fassungslos auf den Bildschirm. Ich verfluche die Entwickler, jeden einzelnen von ihnen. Und das bestimmt nicht, weil sie Franzosen sind. Sondern weil sie mich vor eine Entscheidung stellen, die ich nicht treffen will, nicht treffen kann. Nicht nach all dem, was wir die letzten 20 Stunden durchgestanden haben. Nicht nach all dem Aufbäumen, nach all den zehrenden Versuchen, meine beste Freundin zu retten. Nie konnte es Zweifel geben, dass es so enden wird, mit dem einen großen Opfer. Und doch kann ich nicht glauben, dass Dontnod Entertainment mich hier hin gezogen haben: An die Klippen vor Arcadia Bay, ins Antlitz dieses alles verschlingenden Tornados. Und hier steht sie vor mir, bereit, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Doch wie um alles in der Welt könnte ich solch eine Wahl treffen – Ein Mensch für das Leben aller oder die Vernichtung einer ganzen Stadt für Chloe Price!?

Eine endlose halbe Stunde vergeht und ich wähle. Ich wähle den schweren Weg, den richtigen Weg. Und Life Is Strange zerrt weiter, zwingt mich dazu, jenen Weg bis zum letzten Stein zu beschreiten. Die Zeit springt zurück, fünf Tage zuvor, an die Arcadia Bay High School. Hier habe ich mich versteckt, ungesehen, während die hochgewachsene Tätowierte mit den blauen Haaren in die Mädchen-Toilette gepoltert kommt, mit dem neureichen und psychisch labilen Papasöhnchen Nathan Prescott im Anschlag. Drei Jahre hatte ich meine Heimat für den schönen Schein Seattles hinter mir gelassen, drei Jahre habe ich mich bei meiner einstigen Seelenverwandten nicht gemeldet. Und doch erkenne ich sie – Ich erkenne sie in dem Moment, als Nathan seine Waffe zieht und sie erschießt. Es ist der Moment, in dem ich dem blauen Schmetterling das erste Mal begegne und in dem ich feststelle, dass ich die Zeit manipulieren kann. Nur fünf Tage ist es her, dass ich Chloe gerettet habe, und nun muss ich den gleichen Horror wieder durchleben… Und ich muss den tödlichen Schuss gewähren lassen. Nie war Nichtstun in einem Spiel so schmerzhaft…

Mit großer Macht kommt große Leere

Doch ich kann nicht anders: Dieser Tornado ist mein Werk, das Werk von Maxine Caulfield. Das Ergebnis meines Spiels mit Raum und Zeit. Ich habe Schnee im September herauf beschworen, gestrandete Wale, zwei Monde – und nun diese unaufhaltsame Katastrophe in die Welt gelassen. Ich muss mit ansehen, wie Chloe Price beerdigt wird. Sehe die Trauer ihrer Mutter. Doch ich musste es tun. Ich hasse Dontnod noch immer, und ich liebe sie. Denn ich hatte diese Gabe nicht für mich. Ich hatte sie, um den vermeintlich lässigen und ach so beliebten Post-Grunge Kunstlehrer und Fotograf Mark Jefferson zu entlarven. Denjenigen, der High-School-Mädchen entführte, unter Drogen setzte und sie in dem „reinsten“ Augenblick ablichtete – dem Augenblick, als all diese Mädchen realisierten, dass sie sterben werden.

Nie hatte ich diese Macht dafür, Vergangenes wieder gut zu heilen. Nicht dafür, vergessen zu machen, dass ich Chloe in ihren finstersten Stunden allein gelassen hatte: Den Stunden, als sie ihren liebevollen Vater verlor. Dontnod hat keine Alles-ist-möglich Science-Fiction-Handlung erfinden wollen, sondern ein Requiem auf Schuld, Verantwortung und Akzeptanz – Ein Poem auf das Erwachsenwerden in seiner archaischsten Form. Und hier und jetzt muss es enden…

Ein wichtiger Schritt

Fraglos war Life Is Strange ein großer, interaktiver und dialoglastiger Film, bei dem nach den ersten zwei Episoden noch kaum absehbar war, welche unerbittliche Abwärtsspirale die Geschehnisse in den drei folgenden Teilen nehmen würden. Die Sprache der Teenager war immer ein wenig zu abgeklärt, Mimik und Gestik immer etwas hölzern. Was verschmerzbar ist für ein Indie-Studio, welches bei über einem Dutzend Publisher anklopfen musste, um überhaupt erst seine Idee eines Coming-of-Age-Dramas mit zwei weiblichen Heldinnen verwirklichen zu dürfen (Danke, Square Enix!). Und immer war klar, dass die ganzen kleinen und großen Entscheidungen weit weniger Einfluss hatten als vorgespielt – ganz so wie bei Dontnods erklärten Helden von Telltale Games, die nun mittlerweile der Vergangenheit angehören. Mit dem Unterschied, dass Life Is Strange trotz seinem surrealen Zeitreise-Touch viel näher am wirklichen Erleben war und nahezu jede dieser Entscheidungen schweres, echtes Gewicht in sich trug.

Das hat Life Is Strange ähnlich emotionalen Achterbahn-Fahrten wie Heavy Rain voraus: Diese unmittelbare Nähe, die universelle Nachvollziehbarkeit aller Stationen der bitteren Reise. Und dabei sind die zwei Heldinnen Chloe und Maxine nicht mal wirkliche Sympathieträger. Max ist zwar eine sehr geerdete Figur trotz verschrobenem Selfie-goes-Kunst-Verständnis. Aber eben auch eine Max-imal miese Freundin, die ihren einstigen Pirate in Crime zurückgelassen und schlicht vergessen hat. Und weshalb Chloe mehr als die rebellische Reißbrett-Teenager-Schablone mit 24/7-Fuck-You-Attitüde sein soll, wird auch erst nach und nach ersichtlich. Doch Life Is Strange lässt sich Zeit bei der (Wieder-)Annäherung dieser ambivalenten, gegensätzlichen Pole, bettet den Spieler erst behutsam und wirft ihn dann in einen Fieberwahn, aus dem er nicht mehr entkommt. Dontnod haben das Erzählen in Videospielen auf ein neues Level gehoben, in dem sie Charaktere aus dem Leben ziehen und sie mit Feinfühligkeit greifbar machen, bis die Grenzen zwischen Polygonen und Fleisch und Blut verwischen.

(wird fortgesetzt)

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